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Steels Entscheidung: Historischer Roman (German Edition)

Steels Entscheidung: Historischer Roman (German Edition)

Titel: Steels Entscheidung: Historischer Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Iain Gale
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diesem Ort versammelt. Wahrscheinlich machten sich die armseligen Gestalten jeden Morgen aufs Neue von hier aus auf ihre Runden. Doch allmählich durchschaute Steel das scheinbare Chaos. Dies hier war eine gut organisierte Armee, unterteilt in Regimenter und Kompanien. Immer wieder entdeckte er Uniformröcke der Armeen Frankreichs und seiner Verbündeten: Bayern, Schweizer und Iren. Es gab aber auch Männer in den Uniformen der Alliierten: Dänen, Preußen, Österreicher und Söldner der kleineren deutschen Lande. Steel fragte sich, wie viele Männer auf dem Platz die Uniformen nur der Verkleidung halber trugen und bei wie vielen es sich tatsächlich um ehemalige Soldaten handelte, die auf die schiefe Bahn geraten waren.
    Wenn man es genau bedachte, war es kein so weiter Weg aus den Reihen der Regimenter in die Gosse, denn die Press-Kommandos rekrutierten viele arme Schlucker aus Elendsvierteln in ganz Europa für die Armee. Doch die meisten Männer und Frauen auf dem Cour des Miracles trugen die Kleidung von Zivilisten. Manches Damenkleid war sogar recht elegant, stammte aber aus einer vergangenen Epoche und war seit zwanzig, dreißig Jahren aus der Mode. Doch gerade das Schillernde und Groteske trugen zum Charakter dieser Zwischenwelt bei. Ja, dies hier war eine Welt innerhalb einer Welt: die verborgene, geheime Unterwelt von Paris. Eigenartig war nur, dass Steel sich an diesem Ort tatsächlich sicher fühlte, obwohl er es zu Beginn nicht hatte wahrhaben wollen. An keinem anderen Ort dieser Stadt war er je sicherer gewesen.
    Überall auf dem Platz hockten Leute an offenen Feuerstellen auf dem kargen Boden. Frauen kreischten, Kinder plärrten, und Hunde trotteten zwischen den Menschen hindurch. Die Häuser, die den Platz umschlossen, waren genauso heruntergekommen und schäbig wie die Bewohner – manches Gebäude mochte noch bis ins späte Mittelalter zurückreichen. Auch der Geruch, der über dem Platz hing, war überwältigend; der Qualm von den Holzfeuern mischte sich mit Körperausdünstungen, dem Gestank von Unrat und den zahllosen Gerüchen, die den Kochtöpfen entstiegen. Hatte man diesen Geruch von angebranntem Eintopf einmal in der Nase, wurde man ihn so schnell nicht wieder los, auch wenn man längst an den Feuerstellen vorbei war.
    »Was für ein Ort, wie?«, merkte Simpson an. »Die Behörden haben hier keinen Zugriff. Wann immer sie sich bis hierher vorwagen, ziehen sie sich wieder zurück. Aber für Euch und mich, mein lieber Jack, für uns Spione, ist es wie ein zweites Zuhause.«
    Sie mischten sich unter all die Menschen und bahnten sich ihren Weg über den Platz. Steel sah, welches Ziel Simpson anvisiert hatte. Auf der gegenüberliegenden Seite des Platzes, im Erdgeschoss eines der Häuser, befand sich eine Schänke. Ein dunkles, rötliches Licht strömte aus den schmutzigen Fenstern, und der Lärm, der aus dem Etablissement drang, schien die Geräuschkulisse auf dem Platz noch zu übertönen. Über der Tür hing ein Schild, auf dem ein geschlachtetes Huhn und ein Stapel Münzen zu erkennen waren – französische Sous. Steels Blick fiel auf den Spruch darunter: Aux sonneurs pour les trépassés.
    Simpson bemerkte, dass Steel mit den Worten beschäftigt war. »Ein Wortspiel, mein lieber Junge. Sonneurs – sous neufs , neue Münzen, und pour les – poulets , Hühner, was lustigerweise auch ›Nachtwächter‹ bedeutet. Bestechungen für den Nachtwächter, die Erzfeinde dieses Ortes. So, da wären wir.«
    Sie traten ein, aber Steel hätte bei dem Gestank beinahe einen Schritt zurück gemacht. Schon die Gerüche auf dem Platz hatten einem den Atem geraubt, aber hier im Schankraum wurde es geradezu unerträglich. Der Raum hatte eine kreisrunde Fläche und war voll mit Tischen, an denen Männer und Frauen saßen. Talglichter und der Schein eines offenen Kaminfeuers tauchten das Innere in flackerndes, trübes Licht. Die Gäste an den Tischen befanden sich in unterschiedlichen Stufen der Trunkenheit. Steel sah auf den ersten Blick, dass fast jeder Mann mit mindestens einer Waffe ausgestattet war, mit einer Muskete oder Hippe – einer Art Stangenwaffe der Infanterie.
    Am größten Tisch, in der Mitte des Raumes, saß ein ungeheuer großer, beleibter Mann. Sein Schädel war fast kahl, und ein langer Schnauzbart legte sich um seine Mundwinkel. Als Steel und Simpson tiefer in die Schankstube traten, fixierte der Mann beide mit einem neugierigen Blick. Doch in diesem Blick lag etwas Raubtierhaftes, ein

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