Steels Entscheidung: Historischer Roman (German Edition)
vielleicht ein Bote auf dem Weg nach Paris.
Als Steel dann doch bei einem Tor angehalten wurde und dem Sergeant der Zitadelle die Papiere zeigen musste – die natürlich perfekt gefälscht waren –, winkte der Mann ihn nach einem flüchtigen Blick auf die Dokumente einfach durch. Steel hörte, wie mehrere Soldaten oben auf den Wehrgängen riefen, was für ein Glück er doch habe, denn soweit sie wüssten, könne Marlborough mitsamt seiner riesigen Armee jeden Augenblick hier auftauchen und die Festung belagern. Steel quittierte die Bemerkungen mit einem Nicken.
In der Tat trafen jeden Tag Berichte von Gräueltaten ein, die Marlboroughs Dragoner an der wehrlosen Landbevölkerung verübt hätten. Schwarze Rauchsäulen, so hieß es, stiegen von Tausenden Dörfern in der Picardie und im Artois auf; unzählige Kinder seien hingeschlachtet worden. Hätten die hiesigen Wachen Steels wahre Identität gekannt, sie hätten ihn zweifellos ohne viel Federlesen am nächsten Baum aufgeknüpft. Aber glücklicherweise ahnten sie nichts, und Steel seinerseits wusste nichts von den meisten Gerüchten.
Von Stunde zu Stunde wuchs seine Zuversicht, dass alles glattgehen würde. In dieser Stimmung erreichte er die Wegkreuzung bei Conchy und nahm dann, wie Hawkins ihm geraten hatte, die Straße nach Pont-Sainte-Maxence, wo er die Oise überqueren sollte.
Bis in den Nachmittag hinein ritt Steel weiter. Bei Einbruch der Dämmerung erreichte er die Ausläufer eines dichten Waldes, müde und erschöpft von zwei Tagen im Sattel. Da er wusste, dass die Gegend in Nordfrankreich bekannt war für Wildschweine, beschloss er, am Waldrand zu bleiben und allenfalls ein paar Schritte zwischen den Bäumen Deckung zu suchen. Ihm stand nicht der Sinn nach einer Begegnung mit einem wilden Eber oder einer Jagdgesellschaft, der er womöglich Rede und Antwort hätte stehen müssen. Bei all diesen Vorsichtsmaßnahmen verrann die Zeit, und bald war es dunkel.
Steel stieg vom Pferd. Nachdem er den Rest des altbackenen Brots und des harten Käses aus dem Feldlager heruntergewürgt und mit dem Tokajer heruntergespült hatte, den der umsichtige Colonel Hawkins ihm in zwei Flaschen mit auf den Weg gegeben hatte, hüllte er sich in seinen Mantel und machte sich ein leidlich bequemes Lager auf dem Waldboden. Er fand schnell in den Schlaf, so wie stets, wenn er im Freien nächtigte. Das Letzte, was er vor dem Einschlafen wahrnahm, war das Geflecht aus Zweigen über ihm, durch das hin und wieder Sterne am wolkenlosen Himmel lugten.
Kurz nach der Morgendämmerung rissen ihn ein Schrei, gefolgt von einem Schuss, aus dem Schlaf. Steel war sofort hellwach, die Sinne geschärft von den Jahren als Soldat. Sein Instinkt riet ihm, an Ort und Stelle zu bleiben und sich nicht vom Fleck zu rühren; andere wären vielleicht gleich aufgesprungen und hätten sich dadurch verraten. Flach presste er sich auf den Boden und hoffte, dass sein Pferd nicht entdeckt würde, das ein paar Schritte entfernt zufrieden graste. Vorsichtig, stets darauf bedacht, kein Geräusch zu machen, tastete er nach seinem Degen, der einzigen Waffe, auf die er sich vom Gefühl her voll und ganz verlassen konnte, denn sein Gewehr hatte er bei der Kompanie zurückgelassen und dafür zwei Pistolen eingesteckt, die im Augenblick jedoch tief in den Satteltaschen vergraben lagen. Die Kugeln bewahrte er in einem kleinen Lederbeutel auf, den er am Gürtel trug.
Abermals waren laute Stimmen zu hören, näher diesmal. Es waren Franzosen, das war ihm auf Anhieb klar. Steel versuchte fieberhaft, sich einen Plan zurechtzulegen. Vorsichtig hob er den Kopf, spähte durch einen Spalt im Blattwerk tiefer in den Wald und entdeckte einen der Männer. Er trug eine Uniform, wie Steel sie nie zuvor gesehen hatte. Erst auf den zweiten Blick wurde ihm klar, dass es sich nicht um Militärkleidung handelte. Die Jacke bestand aus grünem Baumwollsamt, der Kragen und die Aufschläge waren mit goldenen Fäden verziert. Auf dem Kopf trug der Fremde eine Kappe aus demselben Stoff, und in der Hand hielt er einen langen Speer. Steel hatte ihn zunächst für einen Höfling in Livree gehalten, doch nun erkannte er, dass er es mit einem Jäger zu tun hatte.
In diesem Augenblick geriet ein zweiter Mann weiter links in Steels Blickfeld, der in gleicher Weise gekleidet war. Das war es also: Er war mitten in eine Treibjagd geraten. Diese beiden Burschen waren die Treiber, und gewiss folgten in gebührendem Abstand die adligen Herren und
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