Steels Entscheidung: Historischer Roman (German Edition)
Zurschaustellung schierer, sinnlicher Blutgelüste gesehen.
Sein Pferd war trotz des Schrecks nicht fortgelaufen; deshalb brauchte Steel nicht lange, bis er wieder die Straße erreichte. Er hatte geglaubt, die dankbare Jagdgesellschaft hätte ihm zumindest eine kleine Frühmahlzeit gegönnt, doch er war in seinen Erwartungen enttäuscht worden. Somit musste er sich mit der Aussicht auf wenig Nahrung begnügen, ehe er Paris erreichte.
Bei Senlis überquerte er einen weiteren Fluss. Dahinter erstreckte die Straße sich tief ins Land hinein. Steel versetzte die Stute in schnellen Trab und sah, dass die Hufe auf dem festgestampften Weg Staubwolken aufwirbelten. Aufgrund der Trockenheit lag so viel Staub in der Luft, dass Steels Uniformrock ein stumpfes Rot aufwies, als am frühen Nachmittag das Dorf Le Bourget in Sicht kam. Langsam erklomm das Pferd die Anhöhe jenseits der Siedlung, worauf Steel sich in einem Weiler namens Montmartre wiederfand, wo eine bescheidene Kirche auf einem Hügel inmitten der Häuser aufragte. An vielen Mauern der mit Dachpfannen gedeckten Gebäude rankte Wein empor. Bei diesem Anblick meldete sich bei Steel der Durst; daher hielt er Ausschau nach einer Schänke. Doch vorerst lenkte ihn der Ausblick ab, der sich ihm von dem Hügel aus in südlicher Richtung bot.
Steel blickte hinunter in ein grünes Tal und sah unter sich Paris liegen: die Stadt erstreckte sich mit all ihren Kirchturmspitzen, Türmen und schimmernden Dächern bis in die Ferne. Rauch stieg aus den Schornsteinen der zahllosen Häuser. Die Seine schlängelte sich durch die Innenstadt und schloss die kleinere Insel ein, auf der sich die hohen Türme der Kathedrale in den Himmel reckten. Er sah Brücken, die den Fluss überspannten, die Mauern eines Palastes, umgeben von grünen Gartenanlagen, dazu die Kuppeln und Glockentürme von mehr als zwanzig Kirchen.
Nie hatte Steel darüber nachgedacht, dass er eines Tages auf die Hauptstadt Frankreichs blicken würde, auf das Zentrum einer Nation, gegen die er seit Jahr und Tag in den Krieg gezogen war.
Aber er hasste das Volk der Franzosen nicht, wusste er doch, dass sie bedeutende Werke in der Kunst hervorgebracht hatten, der Musik und der Literatur. Auf dem Schlachtfeld jedoch verspürte man nichts als Hass gegenüber dem Mann, der einem selbst nach dem Leben trachtete. Steel fragte sich, ob er sich je mit einem Franzosen anfreunden würde. Und was für ein Mensch mochte dieser Charpentier sein?
Doch all diese Gedanken brachten ihn nur von seinem Auftrag ab. Deshalb lenkte er sein Pferd von der Anhöhe des Dorfes Montmartre hinunter ins Tal. Ihm war klar, dass er sich jetzt in die Höhle des Löwen wagte. Jeden Augenblick könnte seine Reise ein jähes Ende nehmen, obwohl seine eigentliche Mission noch gar nicht begonnen hatte.
Die Stadt besaß keine Mauern mehr; insofern war Marlboroughs Plan wahrhaft meisterlich. Es grenzte an Hochmut und übersteigerte Eitelkeit, dass König Ludwig geglaubt hatte, seine Hauptstadt sei von Natur aus uneinnehmbar und benötige keine Verteidigungsanlagen mehr.
Der weiß uniformierte Wachposten am nördlichsten Stadttor empfing Steel mit einem desinteressierten Nicken und winkte ihn durch. Offenbar hatte auch hier die Uniform für sich gesprochen. Steel schärfte sich noch einmal ein, sich an Hawkins’ Anweisungen zu halten, und rief sich den Weg in Erinnerung: Vom Torhaus sollte er sich in östlicher Richtung halten bis zur Rue Réamur, dann weiter in südöstlicher Richtung.
Sein Pferd ließ er auf Anraten des Colonels in der Rue du Temple an einer Schänke zurück, die einen Stall hatte. Man versicherte ihm, er werde sein Pferd bei seiner Flucht nicht benötigen. Doch vorerst bestellte er im Schankraum ein Bier, um seinen Durst zu löschen, der seine Furcht, entdeckt zu werden, überlagerte. Eine dralle Schankmagd servierte ihm den Krug und lächelte. Das Bier schimmerte goldgelb und besaß eine weiße Schaumkrone. Als Steel sich den Schaum von den Bartstoppeln wischte und dankbar einen Schluck nahm, machte er sich bewusst, dass er inmitten der anderen Gäste nicht weiter auffiel. Dem Wirt hatte er ausreichend Geld für die Unterbringung des Pferdes gezahlt, obwohl Steel sich fragte, ob er das Tier jemals wiedersehen würde.
Hawkins hatte gewiss recht gehabt. Es war unklug, auf dem Rücken eines Pferdes tiefer in eine Stadt wie diese zu reiten. Auf diese Weise zog man nur neugierige Blicke auf sich. Die Leute sahen sofort, dass man ein
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