Steels Entscheidung: Historischer Roman (German Edition)
Schicksal wieder selbst in der Hand zu haben, soweit es ihm möglich war. Nachdem er einige hundert Yards gemächlich getrabt war und die Straße weit hinter sich wusste, zügelte er sein Pferd auf einer kleineren Anhöhe und verschaffte sich einen Überblick.
Vor ihm erstreckte sich die Ebene der Picardie, ein fruchtbares Tal, durchsetzt von einem ungleichmäßigen Muster aus Feldern und Weideflächen – viele Weizenfelder waren bereits abgeerntet. Ein gutes Land, das sorgsam von den Pächtern gepflegt und von den Landbesitzern wegen der Fülle der Erträge respektiert wurde. Doch schon bald würden Marlboroughs Dragoner mit Feuer und Schwert durch diese Gegend streifen, und was verschont blieb, würde später unter den Stiefeln der heranrückenden Armeen niedergetrampelt. So lief es seit Langem in diesen Landen, die kaum noch etwas anderes als Kriegszüge kannten.
Steel fand es erstaunlich, dass die Bauern so viel Zeit und Mühe auf die Felder verwandten, obwohl sie doch ahnten, dass die Ernte jeden Augenblick erneut dem Gegner zum Opfer fiel: Soldaten aus fernen Ländern, die nur ein Ziel verfolgten – den Sieg in der nächsten Schlacht zu erringen.
Flandern und die Picardie bildeten eine heiß umkämpfte Gasse zwischen dem katholischen Frankreich und seinen protestantischen Nachbarn, und Steel wusste, dass sich an dieser kritischen Geografie nichts ändern würde. Seit den Tagen von Azincourt und Crécy waren Männer aus Frankreich, Spanien, aus den Rheinlanden und England hierhergekommen, um zu kämpfen und zu sterben. Und in den folgenden Jahrhunderten würden erneut Soldaten hier stehen und mit ihren furchtbaren Waffen ganze Landstriche verwüsten – die Langbögen von einst waren längst Luntenschlössern und Granaten gewichen, und in Zukunft würde sich auch die militärische Ausstattung der Alliierten weiter entwickeln. Einen Moment lang war Steels Denken von einer schrecklichen Vision beherrscht: Von apokalyptischen Bildern biblischen Ausmaßes, von blutiger Vernichtung, die ihm einen Schauer über den Rücken jagte.
Im selben Moment fuhr der Wind in die Baumwipfel und durch den Stoff des irischen Uniformrocks. Steel fröstelte, fing sich aber gleich wieder, löste sich von den Schreckensvisionen und schnalzte mit der Zunge, um seine Stute, die friedlich gegrast hatte, wieder in einen leichten Trab zu versetzen. Langsam ritt er die sanfte Anhöhe hinunter, fort von den bedrohlich wirkenden, windgeschüttelten Bäumen. Kurz darauf spürte er, dass seine gedrückte Stimmung sich wieder aufhellte.
Inzwischen war er heilfroh, auf Hawkins gehört zu haben, denn trotz des ermüdenden Reisegefährten und der engen, unbequemen Kutsche merkte Steel, dass er ausgeruht war und den bevorstehenden Ritt genießen konnte, doch Steel wusste, dass er fortan in feindlichem Gebiet auf sich allein gestellt war.
Er versuchte, in seiner neuen Rolle zu denken. Er war jetzt Captain Cormack Johnson. Geboren in Cork und zu Hause von einer Gouvernante erzogen. Mit siebzehn war er in die Armee eingetreten und hatte in Neerwinden, Diksmuide und Huy gekämpft – allesamt Gefechte, mit denen Steel vertraut war, für den Fall, dass er wirklich auf Iren aus den Reihen der »Wild Geese« traf. Er war zuversichtlich, sich in diesem Punkt nicht aus Versehen zu versprechen. Allerdings hatte er wahrlich keinen irischen Akzent. Andererseits erwartete man das nicht unbedingt von ihm, denn viele Vertreter des irischen Landadels waren in England erzogen worden. Selbst O’Brien hatte mit englischem Akzent gesprochen. Schwierig würde es womöglich mit dem Gälischen. Die meisten Iren konnten zumindest ein bisschen Gälisch verstehen oder sprechen, aber für ein ungeübtes Ohr – insbesondere für einen Franzosen – war der Unterschied eines irischen Einschlags schwer vom Akzent der schottischen Lowlands zu unterscheiden.
Steel vermutete, dass es inzwischen zehn Uhr morgens war, und schwor sich, sich bei nächster Gelegenheit auch so eine fabelhafte Sprungdeckeluhr wie Hansam zu beschaffen – vielleicht bot sich ihm nach dem nächsten Gefecht die Gelegenheit dazu. Die Frische des Morgens war verflogen, und die Sonne brannte nun auf die Landschaft. Steel spürte den schweren Uniformrock am Leib und kratzte sich des Öfteren am Hals.
Blieb zu hoffen, dass der arme Teufel, der diesen Mantel zuletzt getragen hatte, nicht so stark von Läusen befallen gewesen war. Zumindest nicht in größerem Ausmaß als Steel. Denn in der Armee trug
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