Steels Entscheidung: Historischer Roman (German Edition)
jeder seine kleinen Freunde, die Läuse, mit sich herum, ganz gleich, ob Offizier oder einfacher Soldat. Die kleinen Plagegeister nisteten sich in den Nähten der Uniformen oder Hemden ein und waren nur auszurotten, wenn man die Kleidung verbrannte oder starkem Qualm aussetzte. Nein, dachte Steel, der neue Uniformrock juckte wie alle anderen Uniformen auch; der Stoff mochte ein wenig rauer sein als beim britischen Modell. Ja, es lag an der Beschaffenheit des Stoffes und an der Hitze. Wer vermochte schon zu sagen, wie die Dinge sich entwickeln würden. Vielleicht könnte er in Paris sogar ein Bad nehmen. Einen Moment lang schwelgte er in dieser Aussicht. Die Stadt, so hieß es immer, stand für das Zentrum des weltlichen Luxus und Vergnügens. Sie war eine Wiege der Laster – mit einem Überfluss an Goldornamenten und verschwenderischer Pracht, wie die Welt er zuletzt im Römischen Imperium erlebt hatte. Es hieß, man könne alles, was das Herz begehre, in Paris bekommen.
Neue Versuchungen für einen Mann in Steels Position? Vor einem Jahr hätte er es womöglich so empfunden. Inzwischen aber hatte er eine wunderschöne Frau, die ihn liebte und die er verehrte; daher verspürte er kein großes Verlangen nach weiblicher Gesellschaft. Henrietta hatte natürlich protestiert, als es hieß, er müsse fort, doch schließlich hatte sie nachgegeben, als er ihr erzählte, es bestehe Aussicht auf Beförderung. Selbstverständlich hatte Steel seiner Frau nicht gesagt, wohin sein Einsatz ihn führte; er hatte lediglich erwähnt, unter direktem Befehl Marlboroughs zu stehen. Das hatte gereicht, um Henrietta wieder zu beruhigen. Steel wusste, dass sie nun geduldig auf seine Rückkehr warten würde. Zumindest war sie inzwischen gut untergebracht, auch wenn sie sich mit einem bescheidenen Einkommen begnügen musste. Allerdings gab selbst er zu, dass ein bisschen mehr Geld willkommen wäre, insbesondere bei Henriettas ausgefallenem Geschmack.
Mit einem Lächeln auf den Lippen klopfte er seinem Pferd auf den Hals und sah, dass ein Dorf in Sichtweite gekommen war. Ein kleiner, friedlicher Weiler. Aus den leicht schiefen Schornsteinen stieg Rauch in die Morgenluft. Wahrscheinlich waren die Bewohner bereits in ihre täglichen Aufgaben vertieft. Als Steel die schmale Straße durch die Ansiedlung nahm, schauten einige Dörfler von der Arbeit auf, doch zu seiner Überraschung reagierte niemand beim Anblick eines hochgewachsenen Soldaten in roter Uniform.
Die ältesten Einwohner erinnerten sich vielleicht noch an den Tag im Jahre 1643, als die spanischen Eindringlinge hier von den Franzosen unter dem Duc d’Enghien empfangen worden waren und bei der Festung Rocroi eine empfindliche Niederlage erlitten hatten. Was musste das für eine Zeit gewesen sein! Die Dorfbewohner hatten die Sieger mit Jubelrufen willkommen geheißen, hatten Blumen und Girlanden aus den Fenstern ihrer Häuser regnen lassen. An diesem Tag jedoch, als Steel allein den Spuren des siegreichen Herzogs von Enghien folgte, gab es keinen Jubel. Die Menschen wirkten verdrießlich, was zur Verschlechterung von Steels Laune beitrug. Irgendwo bellte ein Hund, und in der Ferne war das unablässige Krähen eines Hahns zu vernehmen.
Unbehelligt ritt Steel durch das Dorf. Sowie er wieder in offenem Gelände war, überkam ihn tiefe Niedergeschlagenheit, als hätte die gedrückte Stimmung des Dorfes ihm eine dunkle Wolke am Himmel beschert. Er konnte nicht erklären, was geschehen war, aber seine scheinbar makellose Welt schien während der letzten Viertelstunde irgendeinen hässlichen Fleck abbekommen zu haben. Aber was genau nicht mehr stimmte, würde Steel wohl erst noch ergründen müssen.
Er ritt weiter und kam auf der Straße an den Meilensteinen vorbei, die die Entfernung nach Paris anzeigten. Er lauschte den Kirchenglocken der Dörfer, die ihm während des Ritts die vollen Stunden verrieten. Seiner Schätzung zufolge schaffte er bei dieser Geschwindigkeit etwa fünfzehn Meilen am Tag. Keine schlechte Bilanz, aber wenn er seine Verabredung einhalten wollte, musste er schneller reiten. Deshalb trieb er sein Pferd an.
Bald wurden die Dörfer zahlreicher und größer. Steel erreichte Roye und ritt langsam im Schatten der Zitadelle, kritisch beäugt von den französischen Wachen, die dort postiert waren. Doch niemand rief ihn an, niemand stieß sich an seiner Anwesenheit. Für die Wachposten war er nur einer von vielen einsamen Reitern in einer Uniform der Verbündeten,
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