Steels Entscheidung: Historischer Roman (German Edition)
Fremder war, und gerade das, so Hawkins, war entscheidend. Steel wusste, dass er vor allem entspannt wirken musste, um nicht gleich aufzufallen. Die Stimmung in der Stadt war nach Marlboroughs Sieg ganz sicher angespannt, zumal die britische Armee brandschatzend nach Nordfrankreich vorstieß. Jeder fremde Offizier in einem roten Uniformrock – und sei es ein irischer Captain, der unsicher wirkte oder orientierungslos durch die Straßen eilte – würde Verdacht erregen. Also musste Steel Ruhe bewahren. Das Letzte, was er vor dem Treffen mit seinem Kontaktmann gebrauchen konnte, war eine Begegnung mit der Stadtwache, wie unbeholfen diese Männer auch sein mochten. Aus Erfahrung wusste Steel, dass solche Begegnungen sich oft unangenehmer gestalteten, als es zunächst den Anschein hatte.
Bald darauf verließ er die Schänke und ging zu Fuß weiter durch den Norden der Stadt. Er blieb auf den breiteren Straßen und achtete darauf, den Leuten nicht in die Augen zu schauen. Hier lebten die Menschen anders als in den Dörfern und Weilern. Hier waren wohlhabende Bürger zu Hause, die jeden Fremden wissen ließen, dass sie an einem Ort lebten, der von sich behaupten konnte, die größte Stadt auf Erden zu sein. Und das merkte man vielen Bewohnern von Paris auch an, allein schon daran, mit wie viel Selbstvertrauen und Stolz sie durch die Straßen schlenderten.
Steel sagte sich, dass es wohl keine bessere Möglichkeit gab, sich den Gewohnheiten anzupassen, als ebenfalls durch die Straßen zu stolzieren. Also schritt er in südlicher Richtung gemächlich durch die Rue du Temple bis ins Marais. Kurze Zeit später fand er sich am Fluss wieder, hatte die Kathedrale zu seiner Rechten und wurde sich bewusst, wie sehr ihn dieser Anblick an London, die Themse und die Westminster Abtei erinnerte. Auf dieser Seite der Seine wimmelte es von Booten, und an den Ufern herrschte geschäftiges Treiben. Steel überquerte die Brücke zur Ile de la Cité, der Binneninsel von Paris, und fand ohne Probleme den Quai de Bourbon und das Haus mit der Nummer 29. Zwei imposante Holztüren, aufwändig bemalt und mit Schnitzwerk versehen, beherrschten den Eingangsbereich. Das Hôtel de Boisgelou war bereits siebzig Jahre zuvor errichtet worden, in der ersten Bauphase von Ludwigs Regentschaft. Es hatte gewiss bessere Tage gesehen, ehe der Großteil des Adels dem König nach Versailles gefolgt war. Über der Tür war eine Tafel mit einem Wappen entfernt worden. Dennoch machte das Gebäude einen imposanten Eindruck. Steel klopfte an und wartete.
Ein Dienstmädchen von ungefähr siebzehn Jahren öffnete die Tür. Ein hübsches Ding, mit dem Steel sich ohne zu zögern eingelassen hätte, wäre er nicht mit Henrietta verheiratet gewesen. Die Kleine errötete beim Anblick des gut aussehenden Offiziers, der mit seinem Bartschatten und dem von der Reise verstaubten Uniformrock eine raue, verwegene Männlichkeit ausstrahlte. Als das Mädchen erkannte, welchen Rang Steel bekleidete, machte sie einen höflichen Knicks.
Erneut versuchte Steel, sein Französisch zu benutzen. »Captain Johnson. Ich bin mit deinem Herrn verabredet, mit Monsieur de St. Colombe.«
Simpson hatte diesen Namen vor drei Jahren angenommen, als er sich in Paris niederließ. Seither hatte die Tarnung ihm gute Dienste geleistet. Steel wusste allerdings nicht, ob und wie viele Mitglieder des Haushalts von der wahren Identität des Spions wussten. Das Mädchen nickte und lächelte, schien aber unschlüssig zu sein, was es tun sollte.
Doch ehe sie eine Entscheidung treffen konnte, wurde sie von einem großen, hageren Mann mit pockennarbigem Gesicht beiseitegeschoben. Seine Miene war ernst, seine Gesichtsfarbe fahl. Er trug einen dunkelgrauen Gehrock und Breeches und bedachte Steel mit einem Blick, aus dem tiefer Argwohn sprach.
Der Tonfall des Mannes war so düster wie seine Erscheinung. »Oui?«
Erneut erklärte Steel, warum er gekommen war. Der Mann nickte und trat beiseite, um Steel hereinzubitten, ehe er die Tür ins Schloss drückte. Dann gab er Steel zu verstehen, ihm zu folgen. Während das Dienstmädchen über eine Treppe ins untere Geschoss eilte, stiegen der Mann und Steel über eine düstere, schmale Holzstiege ins erste Stockwerk hinauf. Der Butler – dafür hielt Steel den Mann – klopfte an eine Tür, worauf eine Stimme zu hören war. Dann öffnete er die Tür, bat Steel herein und sagte: »Le Captain Johnson, Monsieur.«
Im Zimmer stand ein Mann vor einem der beiden
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