Steels Entscheidung: Historischer Roman (German Edition)
dunkel, der Abend brach herein. Der Lärm auf den Straßen hatte abgenommen, und schweren Herzens machte Steel sich bewusst, dass die Zeit gekommen war, das Haus zu verlassen. Ein letztes Mal betrachtete er sich in Simpsons Spiegel. Steel hatte eine Zeit lang in der Garderobe des Hausherrn gesucht, bis er die passende Kleidung gefunden hatte: Einen Mantel aus goldenem Brokat, dazu eine farblich abgestimmte Weste und Kniehosen aus rotem Samt. Seine Lieblingsstiefel hatte er wohl oder übel zugunsten der feinen Seidenstrümpfe und Schnallenschuhe stehen lassen. Unter der Weste trug er ein kostbares Hemd aus holländischem Stoff. Als sehr unangenehm jedoch empfand er die wallende Allongeperücke, die Simpsons Worten zufolge, de rigueur in der höheren Gesellschaft sei.
Bei dem Prachtexemplar handelte es sich um eine »Duvillier«, wie sein Gastgeber ihn stolz hatte wissen lassen, benannt nach dem berühmten französischen perruquier . Sie war nicht nur lang und fiel bis über die Schultern, sie stand auf dem Kopf auch noch ein paar Zoll ab. Es war eine Echthaar-Perücke; das Haar hatte man den armen Frauen und den Prostituierten der Stadt abgekauft, die mit dem Geld einen weiteren Tag überlebten oder sich für eine Nacht der aufdringlichen Freier erwehren konnten. Sorgfältig kämmte Steel das eigene Haar zurück und setzte sich die wallende Pracht, so gut es ging, gerade auf den Kopf, aber da eine solche Perücke schwer war, hatte jemand wie Steel, der daran nicht gewöhnt war, stets das Gefühl, sie könne ihm jederzeit vom Kopf rutschen. Die modische Erscheinung rundete ein eleganter schwarzer Dreispitz ab, der mit goldenen Schleifen verziert war.
Als Steel sich abschließend in dem bodenlangen Spiegel in Simpsons Schlafgemach betrachtete, musste er laut lachen. Er sah aus wie eine Mischung aus einer Covent Garden Molly und einem Spieler. Ja, in diesem Aufzug ähnelte er einem wahren Beau, einem »fop« – einem Gecken oder Stutzer, wie ihn Mr. Farquhar in seinem jüngsten Theaterstück karikiert hatte. Steel hatte die Komödie zusammen mit Henrietta in London gesehen und musste jetzt schmunzeln, als er sich an einige Textpassagen erinnerte. Ihm kam der Gedanke, dass sein Gastgeber eine Vorliebe für hübsch zurechtgemachte junge Männer haben mochte; dennoch wunderte es ihn, dass Simpson ihn so eindringlich ermahnt hatte, auf sein Äußeres zu achten. Wen würden sie an diesem Abend treffen?
Inzwischen konnte er es vor innerer Unruhe kaum abwarten, sich auf den Weg zu machen, tastete noch einmal nach seinem Degengriff … und verzog enttäuscht den Mund. Zwar hatte er das lange italienische Breitschwert angelegt, aber auf den ersten Blick gesehen, dass die Waffe überhaupt nicht zu der modischen Kleidung passte. Deshalb hatte er den Degen in Simpsons Kleiderschrank gelassen und sich stattdessen zunächst für ein dünnes Rapier entschieden, das am Knauf mit Diamanten verziert war. Diese Waffe war gewiss noch nie im Zorn gezogen worden, und Steel vermutete, dass die dünne Klinge gleich beim ersten Einsatz brechen würde. Also ließ er auch das Rapier zurück und nahm einen Gehstock mit einem Bernsteinknauf und einer schwarzen Schleife. Dann stieg er leichtfüßig die Treppe hinunter in die Eingangshalle.
Am Fuß der Treppe gab er dem diensteifrigen Butler zu verstehen, keine weitere Hilfe zu benötigen, und öffnete die Haustür selbst. Ein letztes Mal atmete er tief durch, besann sich auf seine Rolle und trat zähneknirschend hinaus ins Freie. Im Geiste war er bereits auf Schmährufe gefasst, aber natürlich kam es nicht dazu. Stattdessen fühlte er sich bereits nach wenigen Schritten eigenartig entspannt und stellte fest, dass ihm kaum jemand Beachtung schenkte … obwohl er sich selbst in dieser Kleidung bizarr fand.
Simpson hatte vorgeschlagen, er solle eine Kutsche nehmen, ja, er hatte geradezu darauf bestanden. Der Adel und der niedere Adel befleckte seine Seidenstrümpfe nicht im Unrat auf den Straßen. Doch Steel hatte anders entschieden. Von Kutschen hatte er mittlerweile genug; außerdem wollte er sich die Stadt genauer anschauen. Überdies war es nur ein kurzer Fußweg von Simpsons Haus zu der Soiree.
Zum zweiten Mal überquerte er die Seine. Als er über die Rue de Birague die Place Royale betrat, ahnte Steel, dass er keine Schwierigkeiten haben würde, die Adresse zu finden, die Simpson ihm mitgeteilt hatte.
Der große Platz war taghell erleuchtet von Pechfackeln, die in Abständen vor den
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