Steels Entscheidung: Historischer Roman (German Edition)
Krüppel?«
»Exakt. Aber er hat Euch getäuscht. Ich dachte, Alexander hätte Euch schon einiges erzählt.«
Steel dämmerte es. Offenbar waren auch all die anderen Gestalten in den Schatten der Gassen nicht das, was sie zu sein vorgaben. Er nahm die Leute genauer in Augenschein: Hier schleppte sich ein Mann auf Krücken dahin, dort hockte ein Blinder neben einer Frau, die ein lebloses Kleinkind auf dem Arm hielt. Ein Fremder, der die Uniform eines bayerischen Soldaten trug, sprach ihn auf Deutsch an. Er sah Männer, die als Frauen verkleidet waren und jeden unbedachten Narren mit der Aussicht auf Sex in eine Seitengasse lockten, um ihm den Hals durchzuschneiden.
Es gab die francs mitoux , jene Gauner, die Krankheiten oder andere Gebrechen vortäuschten. Des Weiteren die sabouteux , die Anfälle, krampfartige Fallsucht oder Besessenheit von bösen Geistern simulierten und sich auf dem Boden wanden, um das Mitleid der Passanten zu erregen. Den Schaum vorm Mund erzeugten sie mit harmlosen Pflanzensäften. Man sah auch Leprakranke. Steel hatte den Eindruck, dass es immer mehr wurden, denn inzwischen erreichten sie das Zentrum des Viertels.
Er wandte sich an Simpson. »In was wollt Ihr mich verwandeln? Einen Krüppel? Eine Frau?«
Der Spion lächelte wieder und berührte Steel liebevoll an der Schulter. »Nein, Jack, obwohl ich manches dafür geben würde, Euch einmal in einem Seidengewand zu sehen. Nein, ich denke, wir machen einen blinden Bettler aus Euch.«
Steel musste unwillkürlich lächeln, als er sich die Ironie dieser Maskerade bewusst machte – er sollte einen Blinden spielen und wäre um ein Haar tatsächlich einer geworden.
»Aber zunächst solltet Ihr den Kaiser kennenlernen. Hier geschieht nichts ohne seine Zustimmung. Und um Himmels willen, zollt ihm Achtung, sonst könnten wir beide sehr schnell tot sein.«
Steel wunderte sich über den Namen und die offenbar hochmütige Kühnheit dieses Mannes. »Ihr meint wohl den König der Diebe?«
Simpson sah erschrocken aus. »Pst!«, machte er. »Nennt ihn nicht einen Dieb. Sagt das nie wieder, wenn Ihr diesen Ort lebend verlassen wollt. Er ist hier der König. Manche halten ihn für einen Zauberer. Dafür, dass er die Leute hier innerhalb der Stadt beschützt, fordert er eine Abgabe von ihren Waren. Aber er ist nicht halb so schaurig, wie manche meinen. Er kennt mich. Wir haben eine Vereinbarung.«
Steel war verdutzt. »Ihr meint …?«
»Nein, nichts dergleichen. Er bevorzugt die Damen, genau wie Ihr, Jack. Nein, ich meinte nur, falls ich mal in eine kompromittierende Situation mit einem meiner Freunde komme, brauche ich nur den Kaiser zu benachrichtigen, und schon sorgt er dafür, dass der arme Kerl verschwindet.«
»Er lässt Eure Liebhaber umbringen?«
»Man könnte es so ausdrücken. Aber das klingt ein wenig hart.«
»Das meine ich auch.«
»Bedenkt, Jack, hier in Paris – wie auch in London – wird der Akt, also der Ausdruck der Liebe zu einem anderen Mann, als ein Verbrechen erachtet, das mit dem Tode bestraft wird, oder zumindest mit Verstümmelung. Was sollte ich sonst tun, um meine Position in Marlboroughs Diensten zu sichern? Als Gegenleistung erhält der Kaiser die Wertgegenstände, die die Gentlemen bei sich tragen. Ich versuche stets dafür zu sorgen, dass sie etwas Wertvolles dabei haben – eine größere Summe –, wenn er sie beseitigt. Ich glaube, er entledigt sich der Leichen in der Seine.«
Steel glaubte dem Spion aufs Wort. Simpson war all die Jahre zweifellos ein Trumpf in der Hand des Herzogs gewesen, die direkte Verbindung zur französischen Hauptstadt … bislang obendrein mit perfekter Tarnung. Was waren da schon ein paar Männer, die in der Seine verschwanden, im Vergleich zu den Tausenden alliierter Soldaten, deren Leben gerettet wurde?
Allerdings machte Steel sich bewusst, dass Simpson seine bisherige Rolle jetzt nicht mehr spielen konnte, da seine Tarnung aufgeflogen war. Daher fragte er sich, was aus einem Spion wurde, der nicht mehr in dem alten Terrain eingesetzt werden konnte. Vielleicht erhielt Simpson eine Stelle bei den Horse Guards, als Ausdruck der herzoglichen Dankbarkeit.
Die Straße mündete auf einen großen Platz, der von Fackeln erleuchtet war und auf dem sich viele Leute drängten.
Simpson machte eine einladende Geste. »Willkommen auf dem Cour des Miracles.«
Steel kam es beinahe so vor, als hätten sich sämtliche Bettler, die er je vor den Portalen der Kirchen Europas gesehen hatte, an
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