Steels Entscheidung: Historischer Roman (German Edition)
gestorben wärt. Glaubt mir, es wäre nicht ihre erste Begegnung mit einem britischen Offizier gewesen.«
Wie immer, schien Simpson bestens unterrichtet zu sein. Steel entnahm seinem Tonfall, dass jetzt nicht der Zeitpunkt für Fragen war, doch er glaubte, so etwas wie den Ausdruck tiefer Verletzung in Simpsons Augen zu sehen … vielleicht sogar von verlorener Liebe. Er fragte sich, inwieweit die Marquise damit zu tun hatte, und gelangte erneut zu dem Schluss, dass in dieser Stadt alles möglich war.
Steel lächelte. »Ich dachte, man hätte auch Euch geschnappt. Und Charpentier. Was ist mit ihm?«
Simpson lachte. »Der Major ist in Sicherheit. Malbec glaubt, dass Charpentier von Euch übertölpelt wurde, und Charpentier bestärkt den Major in diesem Glauben. Und was mich betrifft, ich bin so schwer zu fangen wie ein Fisch mit bloßen Händen, mein lieber Junge. Man war mir schon dichter auf den Fersen, glaubt mir, aber ich bin den Häschern noch jedes Mal entronnen. Aber was ist mit Euch? Ihr seht aus, als wärt Ihr gerade mal mit dem Leben davongekommen. Malbec und seine Handlanger sind so grausam und herzlos wie eine Bande von Halsabschneidern, Jack, deshalb muss man sie auch wie Halsabschneider behandeln. Ich habe vor, mich ihrer zu entledigen.«
Zum ersten Mal entdeckte Steel einen grausamen Zug um die Mundwinkel des Spions, und in seinen stahlblauen Augen erschien ein Ausdruck grenzenloser Rücksichtslosigkeit.
»Willkommen im Cour des Miracles«, fuhr der Spion fort. »Wie Euer Bruder Euch sicher schon gesagt hat, ist hier nichts so, wie es scheint. Dies hier ist der einzige Ort in ganz Paris, wo Malbec und seine Schergen nie nach Euch suchen würden. Aber Ihr habt recht. Hier ist es dreckig, in diesem Reich des Verbrechens und des Chaos. Einst soll es ein Dutzend solcher Elendsviertel gegeben haben. Dieses ist übrig geblieben.« Er sah sich um. »Mir scheint, der Abschaum aller vorherigen Viertel hat sich hier vereinigt.« Beiläufig wischte er sich irgendetwas von der Kniebundhose, und Steel konnte nur hoffen, dass es Dreck war.
»Woher kennt Ihr meinen Bruder?«, hakte er nach.
»Oh, ein zufälliges Zusammentreffen und ein bisschen Kopfarbeit. Euer echter Name ist nicht allzu geläufig. Zumindest hier nicht. Ich habe alles auf eine Karte gesetzt.«
»Ihr habt geahnt, dass wir verwandt sind?«
»Ja, und ich vermutete weiter, dass er Euch helfen würde, falls Euch die Flucht gelingt. Ich war mir aber nicht sicher. Es hätte ebenso gut ein schrecklicher Fehler sein können. Deshalb bin ich heilfroh, dass ich mit meiner Vermutung richtiglag.«
In Simpsons Tonfall spiegelten sich Aufrichtigkeit und wahre Freundschaft. Steel machte sich bewusst, dass dieser Mann trotz seiner Allüren und sexuellen Vorlieben in seinem Herzen immer noch ein Offizierskamerad war.
»Ich bin froh, dass Ihr so klug wart, Kontakt zu meinem Bruder aufzunehmen, und ich danke Euch dafür«, sagte Steel. »Ihr habt viel riskiert. Ich wäre nicht hier, wärt Ihr nicht gewesen. Aber ich frage mich, wie Ihr mich von hier fortbringen wollt. Wahrscheinlich bin ich ein toter Mann, sobald ich einen Fuß auf die Straßen der Innenstadt setze oder versuche, Paris durch eines der Stadttore zu verlassen, nicht wahr?«
Simpson nickte. »Ja. Wir sind nicht nur hier, um Euch vorübergehend Unterschlupf zu gewähren. Nein, wir müssen uns eine passende Verkleidung für Euch ausdenken. Und wo könnte man sich besser umschauen als an einem Ort, an dem nichts so ist, wie es den Anschein hat?«
Steel schaute sich um und sah, dass Simpson recht hatte. Zum ersten Mal bemerkte er, dass ihnen in den Gassen andere schemenhafte Gestalten gefolgt waren. Als sie sich jetzt einem dieser dunklen Schemen näherten, erkannte Steel, dass dort ein Mann ohne Beine auf einem Brett hockte, das Räder besaß: Ein Krüppel, der sich fortzubewegen wusste. Er schaute zu Steel auf, und das matte Licht fiel auf sein hageres, pockennarbiges Gesicht, das unter einem Hut hervorlugte, den sonst französische Infanteristen trugen.
»Um Himmels willen, Sir, ich bitte Euch um einen Sou.«
Steel ignorierte den Bettler und wandte sich wieder Simpson zu. Doch kaum hatte er dem armen Krüppel halb den Rücken zugekehrt, als sich von dem fahrenden Brett eine schwarze Gestalt erhob und kichernd die Straße entlanglief. Ungläubig blickte Steel sich nach dem Krüppel um, doch der war nirgends mehr zu sehen.
Simpson lachte. »Seht Ihr, was ich meine?«
»Der Mann war gar kein
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