Stefan Bonner und Anne Weiss
unser Verhalten verantwortlich. Wir machen uns damit zum Opfer, weil wir uns ohnmächtig fühlen, und so handeln wir auch. Doch man darf nicht unterschätzen, dass diese Unmün digkeit auch gefördert wird.
DIE ZEIT beschrieb Anfang 2007 auf anschauliche Weise unsere Hilflosigkeit angesichts der komplizierten Finanzwelt: »In Sachen Geld ergeht es uns wie Analphabeten auf dem Bahnhof. So lange es Lautsprecherdurchsagen gibt und Schaffner uns den Weg weisen, finden wir auch den richtigen Zug – selbst wenn wir die Schilder nicht lesen können. Was aber, wenn die Lautsprecheranla ge ausfällt? Wenn uns der Schaffner zum falschen Gleis schickt?«
In deutschen Schulen und Familien, dort, wo die Wirtschaftska-pitäne, Familienväter, Mütter und Bundeskanzler von morgen groß werden, scheint die Lautsprecheranlage schon seit Langem ausge fallen zu sein. Und die Schaffner, in diesem Fall die Lehrer und Er ziehenden, wissen oft selbst nicht mehr, wohin die Reise geht. »Was soll ich denen noch beibringen?«, stöhnt eine Gesamtschullehrerin im Internetforum. »Die wollen doch gar nichts lernen!«
Erinnern wir uns noch mal an Herrn Proper, der keinerlei Gespür für die Erhöhung der Mehrwertsteuer hatte und dem das Gefühl für Relationen abhanden gekommen war. Er war Anfang dreißig und einer der älteren Vertreter der Generation Doof. Damit gehört er zu den Prototypen, der Version 1.0 des dummen Nach wuchses.
Wie wir Autoren ist er in den achtziger und neunziger Jah ren aufgewachsen, hat mit mehr oder weniger großem Löffel aus jenem Bildungssystem geschöpft, das den Grundstein für die bis heute andauernde Einfältigkeit gelegt hat. Die achtziger Jahre wa ren das Jahrzehnt, in dem die Dummen laufen lernten. Zu die-ser Zeit wurde der Weg für die Generation Doof bereitet, indem Menschen wie wir die eigene Bildungskarriere in den Sand setzten, weil viele von uns davon überzeugt waren, gar nichts lernen zu müssen.
Dumm geboren, konsequent geblieben und stolz darauf. Man che von uns haben ihr Abitur eher durch Zufall geschafft. Und den Pink-Floyd-Klassiker We Don’t Need No Education haben viele nicht nur gerne gehört, sondern auch sehr ernst genommen.
Unsere Verweigerungshaltung hat uns manchmal sogar unverdiente Lorbeeren eingebracht – und unseren Eltern so manche peinliche Minute beschert:
Stefan erzählt: »Stefan, ich weiß noch, wie ich dich zwei Wochen vor dem Abi auf einer Party getroffen habe«, sagt Jan, nippt an seinem Kölsch und grinst. »Ich war total im Stress. Aber du hast das ziemlich locker ge sehen. Als ich dich gefragt hab, wie weit du mit Mathe bist, hast du gemeint, du fängst morgen erst an zu lernen. Das fand ich echt cool.«
Bisher ist der Abend eigentlich wie erwartet verlaufen – Stufen-treffen zur Feier des zehnjährigen Abiturs. Manche sehen immer noch aus wie zwanzig; die Punks und Chaoten von damals sind heute brave Beamte bei der Gemeinde; die Mädels, mit denen ich zusammen gewesen bin, haben jemand anderen geheiratet und Kin-der bekommen, und mancher vielversprechende Ex-Einserkandidat lebt heute von Hartz IV. Von einem Drittel der Leute habe ich die Namen vergessen, ein weiteres Drittel der Anwesenden kommt mir so fremd vor, als hätte ich nie mit ihnen die Schulbank gedrückt. Die Gespräche drehen sich um das Übliche: Was machst du heute so? Mein Haus, mein Auto, mein Schaukelpferd.
Doch dann habe ich Jan getroffen, und er hat mich an diese böse Sache erinnert: Mathematik. Das mit dem Rechnen. Ich hatte immer eine Fünf.
Jan spült noch einen Schluck Bier runter. »Ich hab bis heute nicht verstanden, wie du so das Abi geschafft hast …«
Ehrlich gesagt: Ich auch nicht.
»Sag, mal, ist denn die Geschichte mit der Mathe-Prüfung tat sächlich wahr?«
Muss er danach fragen? Ich hatte gehofft, dass sich mittlerweile niemand mehr daran erinnert.
Jan schaut mich eisern an und wartet auf eine Antwort.
»Nun ja«, stammele ich und erröte – mir ist das Ganze inzwi schen ziemlich peinlich.
»Du sollst in die Prüfung gegangen sein und gesagt haben, dass du es gar nicht kannst. Und dann bist du wohl wieder nach Hause gegangen.«
Stimmt. So ähnlich ist das gewesen. Ich hatte in drei von vier Prüfungsfächern genügend Punkte gesammelt, um das Abitur zu bestehen. Die letzte Prüfung, Mathe mündlich, sollte mein großer Coup werden, den ich von langer Hand vorbereitet hatte. Schule und Lehrer nervten mich seit dreizehn Jahren mit den immer gleichen langweiligen Themen.
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