Stefan Bonner und Anne Weiss
Danach entschloss sich Julia auf den Rat ihres alten Herrn hin zum Studium der Anglistik und Geschichte in Bonn – dort hatten schon Vorbilder wie Heine, Nietzsche oder Wickert gebüffelt.
Es kam, wie es kommen musste: Nach einem Streberstart mit Prose minaren, Lerngruppen und anderen Spielkreisen verpuffte die Stu dienlust. Julia verpennte die ersten Semester bis zur Zwischenprü- fung größtenteils und hielt sich über Wasser, indem sie alle Scheine mit »ausreichend« oder »teilgenommen« bestand. Mehr verlangte ja auch keiner. Ansonsten verbrachte sie friedliche Sonnentage im Bonner Uni-Park, am Rhein und in diversen Biergärten. Ihre Spontaneität bewies sie, indem sie hin und wieder doch eine Vorlesung besuchte, wenn gerade mal keiner Zeit zum Kaffeetrinken hatte. Warum sollte sie sich da auch regelmäßig hinquälen? In den Vorle sungen gab es keine Anwesenheitspflicht, und an regnerischen Ta gen drückten die Themen ohnehin nur zusätzlich aufs Gemüt. Die Zwischenprüfung schaffte Julia ohne weitere Probleme – auch hier war »ausreichend« völlig ausreichend.
Das Hauptstudium war eigentlich nur eine lange Wiederho-lung des Grundstudiums, und Julia wäre tatsächlich beinahe in der Regelstudienzeit fertig geworden, wenn die Knappheit der Semi-narplätze im Hauptstudium sie nicht überrascht hätte. Gerade das Fach Geschichte war an der Massenuni Bonn dermaßen überlaufen, dass in den Hauptseminaren nur noch eine beschränkte Zahl von Teilnehmern aufgenommen wurde. Hier galt eines der Ur-Prinzipi en der Menschheit: Wer zuerst kommt, mahlt zuerst. Regelmäßig wurden zu Semesterbeginn Tag, Uhrzeit und Ort ausgeschrieben, an denen die Anmeldung stattfinden sollte. Das führte dazu, dass sich vor dem historischen Seminar in der Nacht vor dem Stichtag kleine Zeltstädte bildeten. Wer sich unbedingt für ein Seminar ein tragen wollte, sorgte dafür, dass er als Erster da war, und campierte deshalb kurzerhand vor den Pforten der Uni. Hier griff das Prinzip der Aldi-Sonderangebotsaktion.
Pech für Julia, von Natur aus notorische Langschläferin: Bis sie kapiert hatte, wie der Hase bei der Seminaranmeldung lief, hatte sie zwei Semester in den Sand gesetzt. Tschüss Regelstudienzeit. Hallo Studiengebühren.
Nach vierzehn Semestern, kurz vor der Einführung einer neuen Studienordnung, bekam Julia dann doch noch die Kurve. Nach einem unverhofften Ehrgeizschub schloss sie sogar mit der Note »gut« ab. Auf der Abschiedsveranstaltung wurde verkündet, dass sich ihre Uni fortan als Elite-Uni verstehe. Herzlichen Dank, dach te Julia, viel besser konnte es ja kaum laufen. Alles klar für den Start in die Traumkarriere als weiblicher Hemingway.
Denkste.
Vollbremsung.
Der glanzvolle Magisterabschluss hat sich mittlerweile als
Mondrakete ohne Düsen entpuppt. Nix Lift-off in eine steile Karriere – schön weiter beim Lebensmittel-Discounter einkaufen. Julia will noch immer das machen, was ihr am meisten liegt: kreativ sein, schreiben, am liebsten als Journalistin. Das Ganze im Idealfall als unbefristete Festanstellung und in der Nähe von Bonn, wo sie sich mittlerweile sehr heimisch fühlt.
Bei den ersten Bewerbungen – auf die wenigen Jobs, die überhaupt noch ausgeschrieben sind – hat man ihr jedoch erklärt, dass sie für den Beruf keinerlei Qualifikation habe, und die nötige Erfahrung fehle ihr ebenfalls. Vielen Dank für Ihre Unterlagen. Wir rufen Sie an.
Derzeit verdient sie sich im Halbjahresrhythmus erste Sporen bei immer neuen Praktikumsstellen in Redaktionen, bei Fernseh-sendern oder Agenturen – für wenig bis gar kein Geld, aber immerhin Vollzeit mit unbezahlten Überstunden.
Wie bitter die Realität für Julia ist, haben wir Autoren am eigenen Leib erfahren müssen, denn mit der praktischen Vorbereitung auf einen realen Beruf hatten unsere eigenen verkopften Studiengänge ebenfalls wenig zu tun. Wir schlingerten eher von Zufällen getrie-ben durch das akademische Niemandsland. Und auch für unse re Kommilitonen schien der Ernst des Lebens ein Fernreiseziel zu sein; zumindest machten sie keine Anstalten, sich ernsthaft für die Anforderungen ihres Wunschberufs zu rüsten.
Anne erzählt:
Frühstück in der Einführungswoche des Studiengangs Kulturwis senschaften. Ein langer Tisch, an dem mit müdem Blick einige rastabelock-te Erweckte sitzen. Es ist 1993, Batikshirts sind immer noch groß in Mode. Der Morgen hat praktisch gerade erst begonnen, es ist 11:00 Uhr. Schüchtern setze ich mich neben
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