Stefan Zweig - Gesammelte Werke
scheuchten das Volk. Es war wieder Stille um sie. Dann sagte der König:
»Auf der obersten Stufe des Palastes saßest du, um Recht zu sprechen. Nun aber, da du weiser warst, als je ein Richter gewesen, durch wissendes Leiden, sollst du neben mir sitzen, daß ich deinem Worte lausche und selber wissend werde an deiner Gerechtigkeit.«
Virata aber faßte sein Knie zum Zeichen der Bitte: »Laß mich ledig sein meines Amtes! Ich kann nicht mehr wahrsprechen, seit ich weiß: keiner kann keines Richter sein. Es ist Gottes, zu strafen, und nicht der Menschen, denn wer an Schicksal rührt, fällt in Schuld. Und ich will mein Leben leben ohne Schuld.«
»So sei«, antwortete der König, »nicht Richter im Reiche, sondern Ratgeber meines Tuns, daß du mir weisest Krieg und Frieden, Steuer und Zins in Gerechtigkeit und ich nicht irre im Entschluß.«
Nochmals umfaßte Virata des Königs Knie:
»Nicht Macht gib mir, König, denn Macht reizt zur Tat, und welche Tat, mein König, ist gerecht und nicht wider ein Schicksal? Rate ich Krieg, so säe ich Tod, und was ich rede, wächst zu Taten, und jede Tat zeugt einen Sinn, den ich nicht weiß. Gerecht kann nur sein, der nicht teilhat an keines Geschick und Werk, der einsam lebt: nie war ich näher der Erkenntnis, als da ich einsam war, ohne der Menschen Wort, und nie freier von Schuld. Laß mich friedsam leben in meinem Hause, ohne andern Dienst als den des Opfers vor den Göttern, daß ich rein bleibe aller Schuld.«
»Ungern lasse ich dich«, sagte der König, »aber wer darf einem Weisen widerreden und eines Gerechten Willen verderben? Lebe nach deinem Willen, es ist Ehre meines Reiches, daß einer in seinen Grenzen lebt und wirkt ohne Schuld.«
Sie traten vor das Tor, dann ließ ihn der König. Allein ging Virata und sog die süße Luft der Sonne, leicht war ihm die Seele wie nie, da er heimging, ein Freier alles Dienstes, in sein Haus. Hinter ihm klang leise ein fliehender Tritt nackten Fußes, und als er sich wandte, war es der Verurteilte, dessen Qual er genommen. Er küßte den Staub seiner Spur, beugte sich scheu und entschwand. Da lächelte Virata seit jener Stunde, da er seines Bruders starres Auge gesehen, wieder zum erstenmal und ging froh in sein Haus.
In seinem Hause lebte Virata Tage des Lichts. Sein Erwachen war dankbares Gebet, daß er die Helle des Himmels sehen durfte statt der Finsternis, daß er Farbe und Duft der heiligen Erde spürte und die klare Musik, die im Morgen wirkt. Täglich nahm er wie ein großes Geschenk das Wunder des Atems und den Zauber der freien Glieder, fromm fühlte er den eigenen Leib, den weichen seines Weibes, den starken seiner Söhne, allüberall der Gegenwart des tausendförmigen Gottes beseligt gewahr, beflügelt die Seele von lindem Stolz, daß er nirgends über sein Leben hinaus an fremdes Schicksal griff und niemals feindlich rührte an eine der tausend Formen des unsichtbaren Gottes. Von morgens bis abends las er in den Büchern der Weisheit und übte sich in den Arten der Andacht, die da sind: das Schweigen der Versenkung, die liebende Vertiefung im Geiste, das Wohltun an den Armen und das opfernde Gebet. Sein Sinn aber war heiter geworden, milde seine Rede auch zum geringsten seiner Knechte, und die Seinen liebten ihn mehr, als sie ihn jemals geliebt. Den Armen war er ein Helfer und den Unglücklichen ein Tröster. Vieler Menschen Gebet schwebte um seinen Schlaf, und sie nannten ihn nicht mehr wie einst den »Blitz des Schwertes« und »die Quelle der Gerechtigkeit«, sondern »den Acker des Rats«. Denn nicht nur die Nachbarn kamen von der Straße, sondern von ferne auch zogen die Fremden vor ihn, daß er ihren Streit schlichte, obwohl er nicht mehr Richter im Lande war, und fügten sich ohne Zögern seinem Wort. Virata war des glücklich, denn er fühlte, daß Raten besser sei als Befehlen, und Schlichten besser als Richten: ohne Schuld empfand er sein Leben, seit er kein Schicksal mehr zwang und doch an vieler Menschen Schicksal schaltend rührte. Und er liebte den Mittag seines Lebens mit aufgeheiterten Sinnen.
So gingen drei Jahre und noch drei dahin wie ein heller Tag. Immer linder ward Viratas Gemüt: wenn ein Streit vor ihn kam, verstand er kaum mehr in seiner Seele, daß so viel Unruhe war auf Erden und die Menschen sich drängten mit der kleinen Eifersucht des Eigenen, da sie doch das weite Leben hatten und den süßen Duft des Seins. Er beneidete keinen, und keiner beneidete ihn. Wie eine Insel des Friedens
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