Steh dir nicht im Weg
Sohn gewünscht und das andere bekommen haben. Zum anderen kann sie sich aus der Zuschreibung der Persönlichkeit eines anderen ergeben: »Du bist genau wie dein Vater/deine Mutter/Onkel Max«. Diese Zuschreibung kann positiv gemeint sein, häufiger jedoch ist es eine negative Charakterisierung.
Auch wenn die Zuschreibung positiv gemeint ist, stellt sie für das Kind natürlich eine Einschränkung dar: Es muss sich immerzu an einem Idealbild messen lassen. Wenn die Zuschreibung negativ gemeint ist, bezieht das Kind quasi die Prügel für die realen oder vermeintlichen Untaten eines anderen. Die Eltern kolportieren sehr genau, wie der Vergleichsmensch sich verhält und was er alles auf dem Kerbholz hat, und sie vermitteln dem Kind immer wieder, es sei ganz genauso und werde auch ebenso enden. Da das Kind sich noch nicht selbst definieren kann, übernimmt es irgendwann diesen Vergleich und verhält sich ähnlich wie sein »Vorbild«. Das kann so weit gehen, dass es tatsächlich zu Übereinstimmungen im Lebenslauf kommt.
Wer ein solches Skript lebt, muss erst einmal klären, wer er selbst eigentlich ist – denn er hat ja nie die Freiheit gehabt, sich eigenständig zu entwickeln. Er muss lernen, sich selbst auf die Spur zu kommen, um sich von der Identifikation mit einem anderen zu befreien. Er kann zwar die eine oder andere gleiche Vorliebe haben wie der »Vergleichsmensch«, aber er muss eben trotzdem er selbst sein.
Die hinderlichen Gedanken, die Menschen mit dieser Einschärfung |206| begleiten, sind sehr unterschiedlich. Einerseits hängt es davon ab, ob sich die Einschärfung auf das Geschlecht oder auf eine Zuschreibung bezieht, und andererseits, ob jemand die Einschärfung einfach übernommen hat oder ob er sein Leben lang dagegen ankämpft. So könnte zum Beispiel ein Mann, der als kleiner Junge von seiner Mutter immer herausgeputzt wurde, da sie lieber eine Tochter gehabt hätte, ständig unter dem Zwang stehen, beweisen zu müssen, was für ein Kerl er ist. Dabei würden vermutlich folgende Gedanken eine Rolle spielen:
Ich darf nicht verzärtelt erscheinen.
Ich will nicht, dass mich jemand für einen Jammerlappen hält.
Ein richtiger Mann tut das nicht.
Eine Frau hingegen, deren Eltern sich einen Sohn gewünscht haben und die stolz darauf waren, dass sie »wilder als jeder Junge ist«, hat diese Einschärfung übernommen und schränkt sich deshalb in ihrer Weiblichkeit vielleicht folgendermaßen ein:
Diese Klamotten sind doch viel zu aufgerüscht, das passt doch gar nicht zu mir.
Ich will dieses weibliche Getue nicht, damit kann ich nichts anfangen.
Ich bin doch kein albernes Frauenzimmer.
Wenn »Sei nicht du« sich auf eine andere Person, mit der man verglichen wird, bezieht, sind die einschränkenden Gedanken meist sehr konkret mit dieser Person verbunden:
Papa hätte das niemals gemacht, das darf ich auf keinen Fall tun.
Nein, das kann ich nicht machen, das passt doch eigentlich gar nicht zu mir (wenn man zum Beispiel etwas tun will, was der Vergleichsmensch bestimmt nicht getan hätte).
Ich bin nun mal so wie Onkel Otto, das ist mein Schicksal, und der hat auch nie großes Glück bei Frauen gehabt.
|207| Komm mir nicht zu nahe
Ein kleines Kind sucht auf vielfältige Weise Körperkontakt: Es will kuscheln, schmusen, zu Mutter oder Vater auf den Arm. Wenn Eltern diese körperliche Nähe nicht ertragen – vielleicht weil sie sie selbst nie erhalten haben –, reagieren sie unwillig, gereizt und ablehnend auf die Annäherungen. Für ein Kind ist das eine schmerzhafte Zurückweisung. Sie ist so schmerzhaft, dass das Kind dazu übergeht, sein Bedürfnis nach Nähe und Zärtlichkeit einzufrieren. Denn auf Dauer ist es nicht auszuhalten, dieses Bedürfnis zwar zu verspüren, aber nie erfüllt zu bekommen.
Wer als Kind mit der Einschärfung »Komm mir nicht zu nahe« aufgewachsen ist, wird als Erwachsener meist mit einer großen Ambivalenz im Umgang mit Nähe leben: Das, wonach man sich am meisten sehnt, ist das, was man am meisten fürchtet. Da man immer zu wenig Nähe hatte, trägt man ein großes unerfülltes Verlangen in sich. Wenn man die Nähe dann aber bekommt, löst sie Panik aus, weil man insgeheim befürchtet, von all den eingefrorenen Bedürfnissen überrollt zu werden. Man lässt also lieber niemand richtig an sich heran.
Da sich Bedürfnisse nach Nähe aber selten komplett verleugnen lassen, geht man natürlich trotzdem Beziehungen ein, oft mit Menschen mit der gleichen Einschärfung. Dabei
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