Steh dir nicht im Weg
Frage kommt beim Kind an: »Wir sind enttäuscht, dass du keine Eins hast!« Und so lernt es: »Alles, was schlechter als Eins ist, zählt eigentlich gar nicht.«
Wenn die Eltern sich dann noch die Arbeit zeigen lassen und an den (wenigen) »blöden Fehlern« herummäkeln, die die Eins vermasselt haben, hat das Kind endgültig begriffen, dass seine gute Leistung niemanden interessiert, weil nur Perfektion zählt. Außerdem lernt es, dass es absolut nicht in Ordnung ist, Fehler zu machen. So etabliert sich eine Art Schwarzweißdenken: Etwas war entweder perfekt oder es war schlecht. Dazwischen gibt es nichts. Wenn man 100 Prozent haben will, sind 99 Prozent eben inakzeptabel.
Wer mit einem »Sei perfekt«-Antreiber zu kämpfen hat, hat keine innere Erlaubnis, Fehler zu machen. Die ständige Angst vor dem Fehlermachen kostet enorm viel Energie, denn sie führt dazu, dass der Betreffende sehr viel Aufwand betreibt, um Fehler zu vermeiden. Dieser Aufwand steht meist in keinem Verhältnis zum Ergebnis.
Wie viel Aufwand jemand betreibt, zeigt sich oft schon darin, wie Menschen etwas erzählen. Wahrscheinlich sind Ihnen auch schon Menschen begegnet, die eine nervenaufreibend umständliche Art besitzen, ein Ereignis zu schildern – dahinter steckt ein Perfekt-Antreiber. Um nur ja keine Details zu vergessen, holt jemand mit diesem Antreiber sehr weit aus, um alle vermeintlich relevanten Fakten zu erfassen. Er kommt vom Hölzchen aufs Stöckchen, bis er seine Zuhörer entweder absolut langweilt oder so gründlich verwirrt hat, dass sie gar nichts mehr verstehen – oder beides. Die Zuhörer haben meist keine Chance mehr zu unterscheiden, was vom Gesagten nun wichtig ist und was man als Beiwerk getrost vernachlässigen darf. Der Erzähler jedoch steht unter dem Druck seines Antreibers, ein vollständiges, perfektes Bild der Situation zu liefern. Damit erreicht er jedoch vielmehr, dass die Zuhörer unter dieser nicht zu bewältigenden Flut an Worten abschalten.
|212| Es ist die Tragik des Perfekt-Antreibers, dass Menschen, gerade weil sie unbedingt so perfekt sein müssen, letzten Endes meist schlechtere Leistungen erbringen und schlechtere Ergebnisse erzielen als Menschen, die gelassen und locker an ihre Aufgaben herangehen. Oder sie bringen zwar gute Ergebnisse, müssen dafür aber unverhältnismäßig viel Energie aufwenden: Einerseits, weil sie häufig mehr Zeit für die Bewältigung von Aufgaben benötigen, und andererseits, weil der Antrieb für das gute Ergebnis aus der Angst vor Versagen kommt und sich nicht aus der Freude am Tun speist – und Angst verbraucht Unmengen an Energie.
Der Perfekt-Antreiber darf nicht verwechselt werden mit einem hohen Anspruch an die eigene Tätigkeit. Wer gern gute Arbeit leistet, Freude daran hat, ein gutes Ergebnis zu erreichen und hoch konzentriert zu arbeiten, steht nicht unbedingt unter dem Zwang »Sei perfekt!« Der Unterschied zeigt sich spätestens dann, wenn es eine Panne gibt: Denn jemand, der auch gelassen reagieren kann, wenn etwas anders kommt als geplant oder wenn gar etwas schief geht, kann eine Situation mit Improvisationstalent retten. Jemand mit Perfekt-Antreiber hat jedoch kein Improvisationstalent, er macht sich vielmehr die Hölle heiß, dass er jetzt ja nichts falsch machen darf.
Bei der Arbeit drückt sich der Perfekt-Antreiber oft dadurch aus, dass alles bis ins kleinste Detail vorbereitet wird. Die Angst vor Fehlern sorgt für inneren Stress und für immerwährende Angespanntheit. Wenn irgendetwas anders läuft als geplant, erzeugt das pure Panik, denn mit einem Perfekt-Antreiber lässt sich schlecht improvisieren. Man ist viel mehr damit beschäftigt darüber nachzugrübeln, was da schief gelaufen ist, warum das so gekommen ist und was die anderen darüber denken. Selbst kleine Fehler werden nicht auf die leichte Schulter genommen, wie das folgende Beispiel zeigt.
Beispiel: Bei einem Führungstraining unterlief dem Seminarleiter ein Rechtschreibfehler auf dem Flipchart. Ein Teilnehmer machte ihn sehr freundlich darauf aufmerksam – das genügte, um den Seminarleiter |213| für eine halbe Stunde völlig aus der Spur zu bringen! Jemand ohne Perfekt-Antreiber hätte sich beim Teilnehmer bedankt, den Fehler korrigiert und ohne großes Aufheben weitergemacht. Aber wer sich selbst partout keine Fehler erlauben darf, gerät natürlich in größte Not, wenn die Fehler auch noch offenbar werden.
Negative Gedanken, die sofort anspringen, wenn man etwas falsch
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