Steh zu dir
vielleicht ganz gut – solange er sich keine neue Mitbewohnerin sucht. Aber er ist eine treue Seele und arbeitet selbst sehr viel. Er ist häufiger unterwegs als ich.« Er hielt sich meist irgendwo in Kalifornien auf, während sie mit Carole durch die ganze Welt reiste. »Soweit ich weiß, hat er mich nie betrogen. Früher muss er ein ziemlich wildes Leben geführt haben. Ich bin die erste Frau, mit der er zusammengezogen ist. Und bisher klappt es ganz gut. Warum also etwas reparieren, was nicht kaputt ist?«
»Hat er dich gebeten, ihn zu heiraten, Stevie?«
»Nein, zum Glück noch nicht. Ich fürchte jedoch, dass er es tun wird. Früher hat er nie übers Heiraten gesprochen. Aber in letzter Zeit taucht das Thema immer öfter auf. Sollte er mir einen Antrag machen, werde ich mich fürchterlich aufregen. Anscheinend steckt er in einer Art Midlife-Crisis. Das ist deprimierend. Mir gefällt die Vorstellung nicht, dass wir schon so alt sind.«
»Das bist du auch nicht. Es ist doch schön, dass er sich für dich verantwortlich fühlt. Mich würde es mehr aufregen, wenn es anders wäre. Fährst du Weihnachten mit zu seinen Eltern?«, fragte Carole gespannt. Stevie stöhnte auf ihrer Liege am anderen Ende des Zimmers laut auf.
»Ich denke schon. Seine Mutter ist die reinste Qual. Sie findet, ich bin zu groß und zu alt für ihn. Aber sein Vater ist süß. Und ich mag seine beiden Schwestern. Sie sind genauso pfiffig wie Alan.« Für Carole hörte sich das alles recht normal an und erinnerte sie daran, Chloe am nächsten Morgen anzurufen. Sie wollte sie einladen, einige Tage früher als die anderen nach Kalifornien zu kommen, damit sie ein bisschen Zeit zu zweit hätten. Das würde ihnen sicher guttun.
Ein paar Minuten lang lag sie im Dunkeln und dachte darüber nach, dass Matthieu meinte, Chloe sei als kleines Mädchen schwierig gewesen. Das entlastete Carole zwar, aber sie wollte dennoch versuchen wettzumachen, was Chloe vermisst hatte. Sie hatten beide nichts zu verlieren, aber viel zu gewinnen.
Sie war schon fast eingeschlafen, als Stevie noch etwas wissen wollte. Es war eine weitere dieser Fragen, die man im Dunkeln leichter stellen kann. Sie konnten einander von ihren Betten aus nicht sehen. Es war wie bei der Beichte. Und die Frage traf Carole überraschend.
»Liebst du Matthieu noch?« Das bewegte Stevie schon seit Tagen. Carole brauchte lange, ehe sie antwortete. Was sie dann sagte, kam der Wahrheit wohl am nächsten.
»Ich weiß es nicht.«
»Würdest du irgendwann wieder hierherziehen?« Stevie hatte Angst um ihren Job. Aber dieses Mal antwortete Carole ohne zu zögern.
»Nein. Schon gar nicht wegen eines Mannes. Es gefällt mir in L. A.« Sie mochte das Haus, die Stadt, ihre Freunde dort und das Wetter. Die grauen Pariser Winter lockten sie nicht mehr, wie schön die Stadt auch sein mochte. »Ich gehe nirgendwohin«, versicherte sie ihrer Assistentin.
Kurz darauf schliefen sie beide mit dem beruhigenden Gefühl ein, dass sich nichts in ihrem Leben ändern würde.
Als Carole am nächsten Morgen erwachte, war Stevie bereits aufgestanden und hatte ihr Bett gemacht. Eine Schwester brachte gerade das Tablett mit Caroles Frühstück. Ihr auf den Fersen folgte die Neurologin.
Sie stellte sich an Caroles Bett und lächelte sie freundlich an. Carole war ihre Vorzeigepatientin. Sie erholte sich so gut und schnell, dass sie sämtliche Erwartungen übertraf. Das sagte die Ärztin Carole, während Stevie wie eine stolze Mutter daneben stand.
»Es gibt noch so vieles, woran ich mich nicht erinnere! Meine Telefonnummer, meine Adresse, wie mein Haus von außen aussieht. Ich weiß wieder, wie mein Schlafzimmer, der Garten und mein Arbeitszimmer aussehen. Aber vom Rest des Hauses habe ich keine Vorstellung. Ich erinnere mich auch nicht an den Namen oder das Gesicht meiner Haushälterin, oder an die Zeit, als meine Kinder noch klein waren … Ich kann die Stimme meines Vaters hören, aber ich sehe sein Gesicht nicht … Ich kann mich nicht an meine Ehen erinnern, vor allem nicht an meine letzte.« Es war eine endlose Aufzählung, und die Ärztin lächelte.
»Zumindest bei Letzterem könnte das ein Segen sein. Ich erinnere mich an viel zu viel aus meiner Ehe! Ich würde einiges liebend gern vergessen«, sagte die Ärztin, und die drei Frauen lachten. Dann wurde sie wieder ernst. »Sie müssen Geduld haben, Carole. Es dauert Monate, vielleicht sogar ein oder zwei Jahre. Manches bleibt womöglich für immer
Weitere Kostenlose Bücher