Stehaufmädchen: Wie ich mich nach dem Attentat meines Stiefvaters zur Boxweltmeisterschaft zurückkämpfe (German Edition)
der anderen Seite wurde immer wilder, aggressiver und entschlossener, je mehr wir uns ihm widersetzten. Wir rissen uns gegenseitig in einen Abgrund.
Papa reiste dann eines Tages in den Libanon und fragte meine Großmutter, ob er mich umbringen dürfe, weil ich die Ehre und den Frieden der Familie bedrohe. Meine Großmutter und andere Verwandte riefen daraufhin vom Libanon aus bei uns an, um sich zu erkundigen, ob es uns gut gehe und was denn nur passiert sei. Sie fielen aus allen Wolken. Bisher waren wir nach außen immer die glückliche, heile Familie gewesen. Niemand hatte von den Gewaltausbrüchen und dem Kontrollwahn meines Vaters gewusst. Für uns war immer klar gewesen, dass das, was zu Hause passierte, auch zu Hause blieb. Jetzt kam heraus, wie es wirklich bei uns zuging. Die Verwandten stellten sich auf die Seite von uns Frauen. Alle libanesischen Verwandten hielten zu mir und Kosta und versuchten, meinem Vater den Kopf zurechtzurücken. Leider vergebens.
Denn als er wieder nach Ulm zurückgekehrt war, ging der Streit genauso weiter wie bisher. Wir drehten uns mit unseren Argumenten im Kreis. Auch wenn meine Argumente die besseren waren, Papa wollte sie nicht gelten lassen. Ich konnte ihn einfach nicht mehr erreichen. Niemand konnte das. Immer wieder sagte ich ihm, dass ich nichts Schlimmes getan hatte – ich hatte mich verliebt, wie er selbst auch schon in seinem Leben, mehrmals. Er wusste doch, wie es war, verliebt zu sein. Ob er es mir nicht auch zugestehen wolle? Darauf sagte er stets: »Nein.« Denn ich hätte mit meinem Verhalten unsere Familie zerstört.
Als Nächstes kam dann immer: »Kosta ist kein Muslim. Das geht nicht.« Auch da hatte ich die besseren Argumente, denn unter Muslimen gibt es genauso viele Schwachköpfe wie überall sonst auch. Etwa Männer, die ihre Frauen schlagen.
Ich selbst bin gläubige Muslima, aber ich hasse es, wenn andere Muslime Wasser predigen und Wein trinken. Menschen wie mein Vater, die schlecht mit ihrer Familie umgehen, aber nach außen hin so tun, als wären sie gute, fromme Muslime. Oder Menschen, die ihren Glauben vor sich her tragen und demonstrativ fasten und beten, aber am Wochenende Alkohol trinken. Überall gibt es schlechte Menschen, aber so sind Menschen eben: Sie machen alle Fehler. Die Kunst ist es, einerseits zu den eigenen Fehlern zu stehen und zu akzeptieren, dass auch andere Menschen Fehler machen, andererseits aber auch zu verzeihen. Dass Kosta kein Muslim ist, ist mir gleich, denn Kosta hat ein gutes Herz und glaubt an Gott. Und das ist es, was mir als gläubigem Menschen wichtig ist.
Mein Vater begann dann zu jammern: »Aber wer soll denn mit meinem Enkelsohn in die Moschee gehen?« Wütend antwortete ich ihm: »Nimm du doch erst einmal deinen eigenen Sohn mit in die Moschee!« Das saß, denn ich hatte recht. Wir waren keine besonders religiöse Familie. Wir Frauen trugen kein Kopftuch, wir trugen ganz normale westliche Kleidung, auch kurze Röcke und schulterfreie Oberteile und am Strand Bikini. Wir sollten und wollten nur nicht zu aufreizend sein. Ich war immer eine ganz durchschnittlich westlich gekleidete Frau – und in unserem Haushalt war ich dennoch die Gläubigste. Ich betete fünf Mal pro Tag, weil mir Gott wichtig ist.
Mit dem Glaubensargument brauchte mein Vater mir also nicht zu kommen, daher brachte er das Argument, dass Kosta Grieche sei und das nicht gehe. Ich würde »die Griechen« nicht kennen, die Griechen ließen nur ihre eigene Kultur gelten und passten sich niemals an. Ich fragte dann, ob »die Libanesen« denn so anders seien, schließlich seien Griechen und Libanesen doch benachbarte, sich nahestehende Völker. Und außerdem seien Kosta und ich doch viel mehr deutsch als griechisch oder libanesisch. Dieses Thema hatten wir meistens schnell abgehakt.
Aber dann ritt Papa immer wieder darauf herum, dass ich ihn drei Monate lang hintergangen hatte. Und da konnte ich ihm nicht widersprechen, denn da hatte er recht, und so blieb ich als Tochter seine Angriffsfläche. Dass ich mir erst sicher sein wollte, mochte er nicht gelten lassen. Er wollte es einfach nicht verstehen. Alles andere konnte man irgendwie hinbiegen, aber der Vertrauensbruch blieb im Raum stehen.
Acht Wochen nachdem ich ihm von meiner Liebe erzählt hatte, zog mein Vater dann aus unserer Familienwohnung aus. Er nahm alle seine Sachen mit und ließ uns einfach zurück. Wir waren frei. Dachten wir.
Singen
Ich bin Rola, sie singt. Ich singe zum Himmel.
Weitere Kostenlose Bücher