Stehaufmädchen: Wie ich mich nach dem Attentat meines Stiefvaters zur Boxweltmeisterschaft zurückkämpfe (German Edition)
Ich bin frei und glücklich. Kosta und ich sind ein Paar, endlich und offiziell, wir genießen alles, genießen uns. Es ist Spätsommer, wunderschön. Wir haben uns und alle Zeit der Welt. Wir tun, was ich in meinem Leben zuvor noch nie getan habe. Spazieren gehen. Ich war früher Rola, die über Leute gelacht hat, die spazieren gehen. Zu banal. Jetzt ist es das Schönste, das wir haben können: Normalität. Spazieren gehen. Einfach wir sein. Jetzt, da mein Herz singt, weiß ich, dass es genau das war, wonach ich immer gesucht habe. Das, was in meinem Leben fehlte. Einfach sein. Nichts fürchten. Nichts müssen. Sein. »I’ve had the time of my life! No, I never felt this way before. Yes, I swear, it’s the truth – and I owe it all to you . «
Wir erzählen uns die ganzen kleinen Geschichten aus unserer Kindheit. Wo wir waren, was wir kennen, was wir mögen und wovor wir Angst haben. Wie wir aufgewachsen sind, was wir als Teenager gemacht haben. Wir lachen viel. Nach all dem Stress, dem Druck, dem Streit, der Wut, der Ernsthaftigkeit, endlich nur wir beide. Erst jetzt lernen wir zu sehen, wer der andere wirklich ist. Zusammengeschweißt sind wir schon, aber nun wächst aus dem Du und Ich ein echtes Wir heran, noch viel stärker und schöner, als wir je gedacht hätten. Wir dürfen uns ganz kennenlernen, in- und auswendig, es gibt keine Hindernisse mehr und kein Versteckspiel. Jeder darf sehen: Kosta und Rola, Rola und Kosta. Spazieren gehen wird unser Ritual. Nie führen wir so schöne, so tiefe Gespräche wie bei unseren Spaziergängen. Denn wer spazieren geht, der ist frei und spürt es.
Ich bin Rola, die singt vor Freude, immer noch, auch als aus dem Spätsommer Herbst wird und es schneit. An einem Sonntag gehen wir spätnachmittags im leuchtend weißen Schnee spazieren, wir kommen in die Gegend, in der Kosta aufgewachsen ist. Er zeigt mir alles, jede Ecke, und verrät mir, welchen Quatsch sie als Kinder dort angestellt haben. Wir kommen an dem Spielplatz vorbei, an dem Kosta und seine Freunde sich jeden Tag trafen. Mit seinen Geschichten gibt mir Kosta ein bisschen das, was ich nie hatte: eine Kindheit. Alles, was er erzählt, wird auch zu meinem, wird in meinem Herzen echt, obwohl ich es nie hatte. Jeden Tag mit den anderen Kindern draußen sein, Fußball spielen, Freunde treffen, herumlaufen.
Als wir an Kostas alter Grundschule vorbeikommen, sagt er: »Ich würde sie dir am liebsten von innen zeigen.» Da der Hausmeister genau in diesem Moment aus der Tür heraustritt, fragen wir ihn, ob wir nur ganz kurz hineinkönnen. Er hält uns die Türe auf, und da sind wir schon, in Kostas altem Klassenzimmer. Er weiß noch ganz genau, wo er früher saß, wie seine Lehrerinnen hießen und von welcher Lehrerin er am meisten geschimpft wurde, weil er so viel schwätzte. Ich staune, denn Kostas Gedächtnis ist sonst nicht so perfekt. Er weiß normalerweise heute schon nicht mehr, auf welchem Platz im Café er gestern gesessen hat, und auch dafür liebe ich ihn. Aber hier in der Schule weiß er noch alles ganz genau, er trägt seine Kindheit im Herzen. Noch ein Grund mehr, ihn zu lieben – die wirklich wichtigen Dinge im Leben würde Kosta nie vergessen oder beiseiteschieben. An diesem Tag in der Schule wird mir das ein weiteres Mal klar. »Love can touch us one time, will last for a lifetime.«
Der Schatten des Vaters
Mein Vater lebte nun zwar nicht mehr bei uns, er war aber immer noch präsent. Sogar seine Abwesenheit war auf eine Art schmerzlich, denn jetzt standen wir als Familie vor dem finanziellen Abgrund. All die Jahre hatte mein Vater für uns gesorgt, jetzt mussten wir zusehen, wie wir allein über die Runden kamen.
Papa warf jeden Monat kommentarlos einen Umschlag mit 300 Euro in unseren Briefkasten: 150 Euro für seine Handyrechnung und 150 als Unterhalt für seinen Sohn. Uns Frauen ließ und gab er nichts, was im Lauf der Wochen zu einem ernsten Problem wurde. Wieder einmal musste ich die Verantwortung übernehmen.
Wir hatten noch 4500 Euro in bar zu Hause und wollten davon unsere laufenden Kosten decken. Auch die Rechnungen, die für meinen Vater bei uns ankamen, bezahlte ich, denn ich wollte keinen zusätzlichen Ärger provozieren. Einnahmen hatten wir zunächst keine. Alle meine Sponsorenverträge liefen nämlich noch auf den Namen und das Konto meines Vaters, also auf El-Halabi Boxing, daher konnte ich auf mein eigenes Einkommen, mein eigenes Geld, nicht zugreifen. Nicht, dass es viel gewesen
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