Steilufer
ihm?«
Anna hob ratlos die Schultern.
»Ich weiß es nicht. Auf der einen Seite denke ich, ja, er ist für mich nach Lionel der wichtigste Mensch, er gehört ohnehin schon lange zu meinem Leben. Andererseits ist es auch gut, so wie es ist, klar geordnet, und dann wehre ich mich dagegen, mich zu verlieben. Da sind noch die alten Wunden und die Angst, wieder in so ein Gefühlschaos zu stürzen. Dann denke ich, lieber allein und ruhig leben, kein Risiko eingehen, als wieder jemanden zu verlieren. Verstehst du das? Ich bin einfach völlig durcheinander!«
Frauke sah sie an, nahm die Hände ihrer Freundin und drückte sie.
»Klar, verstehe ich das! Das ist wirklich schwierig für dich, aber du wirst die richtige Entscheidung treffen! Abgesehen davon«, Frauke konnte sich ein leises Grinsen nicht verkneifen, »es gibt Schlimmeres! Wenn du mich fragen würdest, ich wüsste, wie ich mich entscheide – aber mich fragt ja leider keiner!«
Die beiden Frauen lachten.
»Wie spät ist es eigentlich?«, fragte Anna und spähte auf ihre Armbanduhr.
»Ich glaube, ich fahre jetzt besser los. Vielleicht werde ich im ›Floric‹ noch gebraucht.«
»Doch jetzt nicht mehr, kurz nach 11!«
»Oh, es soll Gäste geben, die kommen nur, um zum Abschluss des Abends noch einmal mit der Chefin plaudern zu dürfen!«
»Na, dann darf ich dich natürlich nicht aufhalten!«
»Vielen Dank für den schönen Abend, Frauke, und für das Zuhören!«
Anna verabschiedete sich mit zwei Wangeküsschen von ihrer Freundin.
»Mach ich immer wieder gerne, meine Liebe. Vor allem, wenn ich dafür ein so köstliches Abendessen bekomme! Machs gut!«
Anna war angenehm leicht zumute, als sie über die leeren nächtlichen Straßen zur ›Villa Floric‹ zurückfuhr, bis sie die von Bäumen gesäumte Zufahrt erreichte. Sie sah das rhythmische Zucken eines Blaulichts und sofort spürte sie, wie ihr Herz schneller schlug und ihr die Luft knapp wurde. Das Lichtsignal kam von einem Einsatzfahrzeug der Polizei, das vor den Autos der Gäste auf dem Parkplatz stand. Sie parkte schnell auf dem Hof und rannte im Laufschritt ins Haus.
Yann kam ihr entgegen.
»Anna! C’est pas grave! Es ist nichts Schlimmes passiert! Ich habe gedacht, du übernachtest bei deiner Freundin und es reicht auch noch, wenn du morgen früh davon erfährst, deshalb habe ich dich nicht angerufen. Ich wollte dich nicht aufregen.«
»Was ist denn hier los?«
»Ich weiß es noch nicht genau. Irgendwas mit unserem Lehrling. Die Polizei verhört ihn gerade.«
»Matte? Wo?«
»Ich habe sie in die Bibliothek geschickt«, antwortete Yann und Anna stürmte sofort los.
Ohne Anklopfen öffnete sie die Flügeltür und lief einem uniformierten Beamten direkt in die Arme.
»Entschuldigung! Sie können jetzt hier nicht rein!«, sagte er nicht unfreundlich, aber bestimmt.
Anna wollte protestieren, da hatte sie der große Kommissar schon gesehen und kam sogleich auf sie zu.
»Frau Floric, guten Abend! Kein Grund zur Aufregung!«
»Guten Abend! Tut mir leid, als ich das Blaulicht gesehen habe, dachte ich, es ist was passiert.«
»Gehen Sie sofort das überflüssige Blinklicht ausschalten!«, schnauzte Angermüller den Streifenpolizisten an, der ihn überrascht ansah. »Eine Unsitte ist das – wir sind hier doch nicht im Fernsehkrimi!«
Der Kommissar schloss die Tür zur Bibliothek und blieb mit Anna davor stehen.
»Entschuldigung! Also, es ist nichts passiert, aber es gibt Neuigkeiten. Es wurde mittlerweile einwandfrei festgestellt, dass der unbekannte Tote vom Steilufer nicht identisch mit Fouhad Ferhati ist.«
„Hatten Sie das denn angenommen?«, fragte Anna Floric erstaunt. Angermüller sagte nicht, dass er und seine Kollegen in gewisser Weise darauf gebaut hatten, sondern meinte nur ausweichend:
»Nun ja, wir konnten das zumindest zunächst nicht ausschließen, aber jetzt ist es zweifelsfrei erwiesen. Die andere Neuigkeit ist ein Hinweis, den wir heute Abend erhielten: Ihr Kochlehrling Matthias Wulff soll Kontakte zu einer Gruppe von Neonazis haben. Haben Sie das gewusst?«
Anna sah den Kommissar entgeistert an.
»Das darf nicht wahr sein! Ich hab dem Jungen hier eine Lehrstelle gegeben, weil seine Mutter mich darum gebeten hat. Es war in gewisser Weise seine einzige Chance. Ich hatte schon manchmal so ein dummes Gefühl, weil er öfter Schwierigkeiten machte in der Zusammenarbeit mit seinen ausländischen Kollegen, vor allem mit den Algeriern: Der Matte ist also doch ein Rechter
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