Stein und Flöte
am Turmfenster saß und hinüberblickte zu den Wäldern, durch die irgendwo zwei Grauwölfe trabten. Alle anderen feierten Hochzeit, feierten den gewonnenen Krieg, aber bei ihm wollte sich diese Fröhlichkeit nicht einstellen. Sobald er die Augen schloß, sah er wieder Gisas Gesicht vor sich, wie es ihn angeblickt hatte in den wenigen Augenblicken, nachdem der Stein ihre Stirn berührt hatte. Hätte er verhindern können, was dann geschah? Er konnte nicht glauben, daß das Geschick eines Menschen auf unabänderliche Weise vorbestimmt sein könnte. Sein Stein hatte in Gisa alles ausgelöscht, was seit dem Pakt mit den Wölfen geschehen war. In diesem Augenblick hatte sie ihn geliebt, und es hatte sie nicht gekümmert, was sie das kosten würde; denn sie mußte gewußt haben, worauf sie sich da einließ. Wäre der böse Zauber zerbrochen, wenn er sie in die Arme genommen hätte? Das erschien ihm zu einfach, es sei denn, er hätte damit ihre grausige Verwandlung selbst auf sich genommen. Ob ihm leichter zumute wäre, wenn er jetzt selbst auf vier Beinen durch den Wald trabte? Es schien müßig, darüber nachzudenken, denn er hatte nichts getan, sondern war unfähig gewesen, auch nur einen Finger zu rühren, solange sie zu ihm sprach. Und doch lähmte ihn das dumpfe Gefühl, irgend etwas Entscheidendes versäumt zu haben, das undeutliche Bewußtsein einer Schuld, von der er nicht wußte, worin sie bestand. Gisas Gesicht war so nah gewesen, und jetzt sehnte er sich danach, es zu berühren. War das Ziel, nach dem er suchte, mit ihrem grauen Schatten für immer in den Wäldern entschwunden? Solange er hier an dem Turmfenster saß und zu den Wäldern hinüberstarrte, würde er sich nicht davon befreien können. Er würde wieder reiten müssen, fort aus diesem allzu lieblichen Tal und hinein in das schattige Dickicht jenseits der sanften Wiesenhänge.
Barlo hatte ihn am Tag seiner Hochzeit freigegeben. Als Lauscher ihm Glück wünschen wollte, hatte Barlo ihn wie einen Freund in die Arme genommen und ihm deutlich gemacht, daß seine Verpflichtung als Diener beendet sei. Eldrade sagte dann: »Bleibe unser Freund und sei unser Gast, solange es dir hier gefällt«, und so war Lauscher in das Turmzimmer gezogen und wieder mit Barlo über Land geritten, als habe sich nichts geändert. Aber dieser unerklärbare Rest von Unruhe war ihm geblieben, diese vage Bedrückung, die ihn überfiel, wenn die Wälder in seinen Gesichtskreis traten.
Er stand auf, stieg die schmale Wendeltreppe hinunter und ging über den Hof zu den Ställen. Jalf blickte ihm mit seinen großen, glänzenden Augen entgegen. Lauscher blieb bei ihm stehen, legte den Arm um den Hals des Tieres und kraulte das rauhe Fell. »Wir müssen wieder reiten, Jalf«, sagte er. »Wir müssen reiten.« Jalf schnaubte und rieb sein weiches Maul an Lauschers Hand. Während Lauscher noch so an seinem Esel gelehnt stand und die Wärme des Tieres auf seiner Haut spürte, verdunkelte sich das helle Viereck der Stalltür, und Barlo trat herein. Er kam herüber zu Lauscher und blickte ihn fragend an.
»Ja«, sagte Lauscher, »ich werde morgen reiten.«
Da zog Barlo seine Flöte aus der Tasche, aber er setzte sie nicht an den Mund, sondern wies mit ihr zu den Wäldern im Westen.
»Du hast recht«, sagte Lauscher. »Ich sollte den Sanften Flöter besuchen. Meinst du, daß ich das Zuhören nun hinreichend gelernt habe?«
Barlo schaute ihn nachdenklich an. Dann zuckte er mit den Schultern, und das konnte heißen ›ich weiß es nicht‹ oder ›kann schon sein‹ oder ›da mußt du schon deinen Großvater fragen‹. Da wußte Lauscher, welche Richtung er morgen einschlagen würde.
Zweites Buch,
das davon handelt, wie Lauscher als zweite Gabe
eine silberne Flöte erhält,
mit deren Hilfe er bei Arnis Leuten
große Macht zu gewinnen hofft.
Er hat viele Träume in dieser Zeit,
doch was er sich erträumt, entzieht sich ihm immer wieder,
nicht zuletzt das grünäugige Falkenmädchen Narzia.
Die drei abenteuerlichen Fahrten,
die er um ihretwillen unternimmt, bringen ihm einen Lohn,
auf den er nicht gefaßt war.
Als Lauscher zum ersten Mal durch die Wälder westlich von Barleboog geritten war, hatte er zuvor Gisa auf ihrer schönen Stirn gezeichnet. Er wußte das damals zwar noch nicht, aber man erfährt ja zumeist erst später, was man mit dieser oder jener Tat wirklich verursacht hat. Diesmal, so scheint es, hatte er Gisa den Rest gegeben. Er konnte an nichts anderes
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