Stein und Flöte
entlangritten, hörte Lauscher wieder den Wind durch das hohe, dürre Gras streichen. ›Jetzt ist er gleich am Ziel‹, klang es herüber, und als der Wind das Laub in den hohen Baumkronen links des Weges bewegte, rauschte es: ›Das glaubt er wohl auch, aber die Wölfe hasten raschelnd auf Lauschers Spur.‹
Dann legte sich der Wind, und sie ritten weiter durch die Nacht. Im Schein der Windlichter erschienen die bauchigen Umrisse von Büschen, hoben sich wie unförmiges Getier aus dem Dunkel und versanken wieder hinter der Grenze des flackernden Lichtkreises. Dann tauchten weiter vorn am Weg die kantigen Silhouetten von Häusern auf, helle Fenster blickten den Reitern entgegen, und der Rauch von Holzfeuer hing in der kühlen Nachtluft. Vor einem größeren Haus zügelte der Alte sein Pferd und sagte: »Wir sind zu Hause. Steig ab, komm herein und sei mein Gast!«
Lauscher ließ sich von seinem Pferd gleiten. Während er auf die Tür zuging, fühlte er eine wohlige Müdigkeit in seinen Gliedern. In der Stube nahm ihn eine Frau beim Arm und führte ihn geradewegs zu einem Bett. Schon halb im Schlaf ließ Lauscher es zu, daß sie ihm beim Auskleiden half. Dann hieß sie ihn, sich hinzulegen, und breitete eine wollene Decke über ihn. Seltsame Augen hat diese Frau, dachte Lauscher, während ihm die Lider zufielen. Ihm war, als stürze er in einen bodenlosen Abgrund, in immer tiefere Finsternis, nur diese Augen standen hoch über ihm, zwei unendlich weit entfernte Sterne am Nachthimmel, und sein rasender Absturz blieb unter diesem Doppelgestirn ohne Angst.
Als er aufwachte, stand die Abendsonne schon niedrig über dem Wald und warf einen schrägen Lichtbalken in die Stube. Lauscher setzte sich auf, und im gleichen Augenblick erhob sich die Frau, die ihn zu Bett gebracht hatte, von einem Kissen neben der Tür und huschte hinaus. Ob sie die ganze Zeit über bei ihm gewacht hatte? Nach kurzer Zeit kehrte sie zurück, stellte einen Napf mit dampfender Suppe auf eine kunstvoll geflochtene Matte auf dem Boden und legte frischgebackene kleine Weizenbrote daneben. Dann blickte sie ihn an und sagte: »Steh auf und iß!«
Wieder fielen Lauscher ihre Augen auf. Ihm war, als habe er sie schon einmal gesehen. Ehe er jedoch fragen konnte, ob sie einander schon begegnet seien, verließ die Frau rasch die Stube. Er stand auf, zog sich an und setzte sich auf eines der ledernen Kissen, die rings um die Matte lagen. In dem Napf war eine kräftige Fleischsuppe mit allerlei Gemüsen darin. Lauscher zog den köstlichen Duft ein und fing langsam an zu essen. Mit jedem Löffel breitete sich die Wärme in seinem Leib aus und erfüllte ihn mit Wohlbehagen. Schließlich war der Napf geleert, und Lauscher wischte ihn noch mit einem Brocken Brot aus. Dann stand er auf und blickte aus dem Fenster. Links erstreckten sich die bewaldeten Höhenzüge des Vorgebirges bis zum Horizont, und rechts davon glänzte die weite Steppe unter der Abendsonne wie ein goldseidener Teppich. In einiger Entfernung schritten weidende Pferde langsam durch das hohe Gras. Lauscher sah zu, wie die Tiere ihre Hälse beugten und mit dem Schweif nach Fliegen schlugen. Da wurde hinter ihm die Tür geöffnet. Er drehte sich um und blickte den Eintretenden entgegen, einem außergewöhnlich großen, trotz seiner weißen Haare kraftvollen Mann, dem jener Alte folgte, der Lauscher in der Nacht aufgefunden hatte.
»Ich bin Höni, Arnis Stellvertreter«, sagte der Weißhaarige. »Wanli hat mir berichtet, daß du auf dem Weg zu unseren Häusern warst, als dich die Kräfte verließen. Ich hoffe, du bist jetzt ausgeruht und auch nicht mehr hungrig.«
»Deine Leute haben gut für mich gesorgt«, sagte Lauscher. »Offenbar habe ich einen ganzen Tag verschlafen.«
Um Hönis Mundwinkel zuckte die Andeutung eines Lächelns. »Einen Tag?« sagte er. »Fast drei Tage! Aber das war nach dem Trank, mit dem Wanli dir auf die Beine geholfen hat, nicht anders zu erwarten. Fühlst du dich kräftig genug für ein Gespräch?«
»So kräftig, daß ich gleich wieder reiten könnte, wenn ich nicht schon am Ziel wäre«, sagte Lauscher.
»Dann setz dich, damit wir reden können«, sagte Höni. Er wartete, bis der Gast auf einem Kissen Platz genommen hatte, dann suchte auch er sich einen Sitz und gab Wanli einen Wink, daß er sich gleichfalls setzen solle. »Du sagst, daß du am Ziel seist«, begann er dann die Unterredung, ohne unhöfliche Fragen zu stellen.
»Ja«, sagte Lauscher, »ich war
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