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Stein und Flöte

Stein und Flöte

Titel: Stein und Flöte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hans Bemmann
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dieser Krug zu finden sei, und Lauscher stieg mit einer brennenden Kerze durch die Falltür im Küchenboden über eine hölzerne Treppenleiter hinab in das Gewölbe unter dem Haus. Der flackernde Lichtschein geisterte über Wandbretter, auf denen Reihen von irdenen Töpfen neben allerlei großen und kleineren Krügen standen. Jedes der Gefäße war mit einem pergamentenen Zettel versehen, auf dem der Inhalt verzeichnet war, teils in einer ungelenken, weit ausfahrenden Handschrift, die wohl von der Großmutter stammte; denn diese Aufschriften zeigten nahrhafte Dinge an: Brombeermus, Quittengelee, Honig, Schweineschmalz oder Birnen – und Apfelmost.
    Weiter hinten standen kleine Krüge, deren Zettel mit zierlichen, spinnwebfeinen Buchstaben beschriftet waren, die Lauscher der Hand seines Großvaters zuwies. ›Der Geist der Meisterwurz, herb für die Zunge, doch sanft für den Magen‹, war da zu lesen, und auf dem nächsten Krug: ›Der Geist der Vogelbeere, beflügelt den Sinn und wärmt die Glieder‹. Das war’s, was er suchte. Doch ehe er den Krug vom Regal nahm, wurde er neugierig darauf, was sein Großvater hier sonst noch an stärkenden Getränken verwahrte. Da fand sich ein Auszug aus den Blüten des Wohlverleih mit dem Vermerk ›kühlt Beulen und heilt Wunden‹, und auf dem nächsten Krug war geschrieben:
    Tausendgüldenkraut,
    Gentianenwurz,
    Bitteres ist hier gebraut.
    Trink’s im Sturz!
    Lauscher wollte schon den Rückweg antreten, als der Schein seiner Kerze auf drei apfelgroße Krüglein fiel, die versteckt hinter den anderen standen. Er rückte jenes mit dem bitteren Gebräu beiseite und hob sein Licht. Die Schrift auf den Zetteln war verblaßt, und die Buchstaben zeigten fremdartige Formen. Lauscher nahm eines der Krüglein aus dem Regal, hielt es dicht neben die Kerze und las:
    Ein Tropfen:
    süßer Traum für eine Nacht
    und nie wieder.
    Zwei Tropfen:
    Sturz in den Abgrund
    und immer wieder.
    Drei Tropfen:
    Tod und Vergessen
    für immer.
    Er schauderte und stellte das Gefäß rasch an seinen Platz. Dieses Getränk bot man Gästen wohl besser nicht an. Obwohl er das Gefühl hatte, etwas Unerlaubtes zu tun, konnte er doch nicht widerstehen, auch die Schrift auf dem nächsten Krüglein zu lesen. Sie lautete:
    Kraft für eine Stunde,
    Schlaf für drei Tage.
    Mach schnell,
    daß du nach Hause kommst!
    Lauscher stutzte. Hatte er dergleichen nicht schon einmal gehört? Die Stimme klang ihm noch im Ohr, die zu ihm gesagt hatte: ›Komm, damit dich die Müdigkeit nicht übermannt, ehe wir zu Hause sind!‹ Ein Mann hatte diese Worte gesprochen. Aber wann und wo? Die Erinnerung blieb unscharf und wollte sich nicht packen lassen. Während er noch dastand und darüber nachgrübelte, hörte er von oben den Sanften Flöter rufen: »Kannst du den Krug nicht finden?«
    Lauscher schrak zusammen. »Doch! Ich hab ihn schon!« rief er, stellte das Krüglein rasch an seinen Platz zurück und schob den größeren mit dem Magenbitter wieder davor, nicht ohne noch einen Blick auf den Zettel des dritten dieser geheimnisvollen Gefäße zu werfen. Aber die Schrift war so verblichen, daß er nichts lesen konnte. Dann nahm er den Vogelbeergeist vom Wandbrett und stieg wieder hinauf in die Küche.
    »Du hast lange gebraucht«, stellte der Sanfte Flöter fest.
    Lauscher zuckte mit den Schultern. »Da stehen so viele Sachen …« sagte er vage.
    Sein Großvater warf ihm einen scharfen Blick zu. »Du hast wohl ein bißchen gestöbert?« sagte er.
    Lauscher errötete. »Ich mußte doch die Schildchen lesen, um das richtige zu finden«, verteidigte er sich.
    »Und manche davon sind schwer zu entziffern«, sagte der Sanfte Flöter lächelnd. Dann wurde er ernst und fügte hinzu: »Ich fürchte, dort unten steht so mancherlei, das besser im Dunkel des Gewölbes verborgen bleibt.«
    Ehe sich Lauscher eine Antwort zurechtlegen konnte, kam die Amsel zum Fenster hereingeflattert, setzte sich auf die Schulter des Sanften Flöters und zwitscherte ihm etwas ins Ohr. Er neigte den Kopf zu ihr herab, um sie besser zu hören, und sagte dann: »Dank für die Botschaft, meine Freundin!« und als Lauscher ihn fragend anblickte, sagte er zu ihm: »Unsere Gäste reiten heran. Hol vier von den kleinen Zinnbechern aus dem Schrank und stell sie samt dem Krug auf den Tisch in der Stube!«
    Gleich darauf war von draußen Hufschlag zu hören und das Klirren von Pferdegeschirr. Der Sanfte Flöter ging zur Haustür und öffnete sie, um die Gäste auf

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