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Stein und Flöte

Stein und Flöte

Titel: Stein und Flöte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hans Bemmann
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aufnehmen würde, wenn er sich dieser Zeremonie widersetzen würde, in der nur vollzogen wurde, was sie selbst vorgeschlagen hatte. Er begab sich also gemessenen Schrittes hinüber zu dem Tisch und ließ den Stein in die Schale fallen. Der schwingende Glockenton des goldenen Gefäßes füllte den Raum. Lauscher blickte auf den Stein, der matt schimmernd auf der gewölbten Fläche lag und keine anderen Farben zeigte als den grüngoldenen Widerschein des Metalls. Er wartete, bis der Ton verklungen war, und es schien ihm, als werde damit ein neuer Abschnitt in seinem Leben eingeläutet.
    Eine Woche später war Lauscher reisefertig. Als er sich am Abend vor seinem Aufbruch von Narzia verabschiedete, sagte er: »Du weißt, was ich mir durch diese Fahrt erringen will, Narzia.«
    Sie schaute ihn mit ihren grünen Augen an, dann legte sie ihre kühle Hand für einen Augenblick auf seine Wange und sagte: »Ich weiß vor allem, daß du zu mir zurückkehren wirst, Lauscher. Bring mir das schönste Schmuckstück mit, das du bei den Bergdachsen finden kannst!«
    Lauscher hatte eigentlich etwas mehr erwartet als diese flüchtige Berührung, aber er sagte sich, daß dergleichen wohl verdient werden müsse.
    Am nächsten Morgen führte er sein Pferd über den Steilhang hinter der Ansiedlung hinauf ins Gebirge. Wenn er nicht aus den Erzählungen des Sanften Flöters und seiner Mutter gewußt hätte, daß hier einmal ein Pfad gewesen war, wäre er kaum auf den Gedanken gekommen, sich mit einem Reittier auf dieses abschüssige, von Felsen durchsetzte Gelände zu wagen. Nach einigem Suchen hatte er jedoch den Einstieg gefunden, einen längst wieder von dicken Graspolstern überwachsenen Steig, der zwischen Geröll und buschigem Krummholz schräg am Hang emporführte. Während er den Serpentinen der Spur folgte und dabei Schneefuß am Zügel hinter sich herzog, wunderte er sich, wie genau hier alles der Vorstellung entsprach, die er sich von dem Weg zu Urlas Hütte gemacht hatte. Es schien ihm fast, als sei er schon einmal hier gewesen.
    Nach langer, mühsamer Kletterei gelangte er schließlich auf die obere Kante eines felsigen Abbruchs, und da er sah, daß er von hier aus über leicht ansteigendes Wiesengelände würde weiterreiten können, beschloß er, zunächst einmal sich selbst und seinem Pferd eine Rast zu gönnen. Er setzte sich auf einen Steinbrocken und blickte hinaus in die Steppe, deren silbergraue Fläche sich bis zum fernen Horizont ausbreitete. Irgendwo dort im Weglosen standen die Zelte der Beutereiter, irgendwo dort jagte die Horde durch das singende Steppengras, und irgendwann würde sie seine Spur finden. Dieser Gedanke beunruhigte ihn dermaßen, daß er seine Ruhepause abbrach, als könne Khan Hunli ihn hier oben auf dieser Felsnase erspähen.
    Auch auf der Bergwiese, über die er weiterritt, war die alte Wegspur noch an dem spärlicher wachsenden Gras zu erkennen. Er folgte ihr bis auf den Rücken einer Bodenwelle, und als er deren Höhe erreicht hatte, blickte er in eine flache Mulde, an deren gegenüberliegendem Rand zu Füßen riesiger Felsblöcke eine Hütte stand, Urlas Hütte. In diesem geschützten Kessel mußte sie ihre Schafe gehalten haben, doch jetzt war der Weidegrund verlassen, kein Tier weit und breit außer einem Falken, der rüttelnd hoch über den Wiesen stand. Während er quer über die Bergweide ritt, fühlte Lauscher sich beobachtet, und das nicht nur deshalb, weil der Falke jetzt unmittelbar über seinem Scheitel stand. Auch das zwischen die Felsen geduckte Blockhaus schien aus seinen kleinen quadratischen Fenstern zu ihm herüberzuäugen. Er hatte ein halb verfallenes Gebäude erwartet, im Näherreiten entdeckte er jedoch, daß Dach und Balkenwerk keinerlei Schäden zeigten; und der Vorplatz vor der Tür schien erst vor kurzem gefegt worden zu sein.
    Ob Urlas Hütte nun bewohnt war oder nicht, Lauscher hätte nicht vorbeireiten können, ohne zumindest einen Blick durchs Fenster zu werfen; denn hier in dieser Stube hatte alles angefangen, an jenem Tag, an dem Arni seinen Stein gewählt hatte. Lauscher brauchte keinen Umweg zu machen, denn der Pfad führte unmittelbar an der Tür vorüber. Er hielt sein Pferd an, stieg ab, beschattete eines der Fenster mit der Hand und versuchte hineinzublicken, nahm aber nur den Umriß eines runden Tisches und ein paar Hocker mit strohgeflochtenen Sitzen wahr. Es fiel zu wenig Licht in den Raum, als daß man mehr hätte erkennen können. Um so stärker wuchs in

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