Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Stein und Flöte

Stein und Flöte

Titel: Stein und Flöte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hans Bemmann
Vom Netzwerk:
ihm der Wunsch, diese Stube zu betreten und die Gegenstände anzufassen, die Urlas Hand berührt hatte. Während er zum Vorplatz ging, bemerkte er, daß der Falke ihm gefolgt war und jetzt, viel niedriger als zuvor, über der Hütte stand. Die Tür war von außen mit einem einfachen hölzernen Drehriegel versperrt. Lauscher stellte den abgegriffenen Holzpflock senkrecht und öffnete die Tür. Im gleichen Augenblick stieß der Falke herab und fegte mit einem schrillen Schrei so dicht über Lauschers Kopf, daß die Schwungfedern sein Haar streiften. Lauscher war über diesen unvermuteten Angriff so erschrocken, daß er sich mit einem Satz ins Innere der Hütte rettete und die Tür hinter sich zuzog. So viel hatte er noch erkennen können, daß der Eingang in einen kleinen Vorraum führte, in dem es jetzt allerdings stockdunkel war. Eine Weile blieb er stehen und atmete den Duft von Würzkräutern und Kiefernholz. Dann hatten sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt, und er nahm die Umrisse einer weiteren Tür wahr, die in die Stube führen mußte.
    Er hatte das Gefühl, etwas Unerlaubtes zu tun, nicht so sehr wegen des Falken, dessen Verhalten den Eindruck hätte erwecken können, als wolle er ihn am Eintreten hindern, sondern deshalb, weil niemand da war, der zu ihm sagte: Komm herein und sei mein Gast! Selbst der alte Khan, der Vater Hunlis und Arnis, hätte damals nicht gewagt, ohne eine solche Einladung diese Schwelle zu überschreiten. Während Lauscher noch im Vorraum stand und zögerte, waren seine Bedenken jedoch vom einen auf den anderen Augenblick wie weggewischt, als habe ihn in der Tat jemand aufgefordert, in die Stube einzutreten. Er hätte nicht sagen können, was ihn zu diesem Sinneswandel veranlaßt hatte, sondern wußte nur, daß er willkommen war. Er öffnete die Tür, ging über die ausgetretenen Dielen hinüber zu dem runden Tisch in der Ecke und setzte sich auf einen der Hocker. Es war niemand da, der mit ihm sprach, aber der Duft, der hier in der Stube noch intensiver war als im Vorraum, erzählte von dem Menschen, der hier einmal gewohnt hatte: Es roch nach Thymian und Salbei, Arnika und Schafgarbe, getrockneten Apfelringen, Honig und Wolle. Die harzduftenden Kiefernbretter, mit denen die Stube getäfelt war, hatten diese Gerüche aufgesogen und über so viele Jahre hinweg bewahrt. Indem er diese Gerüche in sich aufnahm, kam ihm die alte Frau näher, die hier ihre Kräuter getrocknet und die Wolle ihrer Schafe gesponnen hatte. Er sah sie vor sich; obwohl er die Augen geschlossen hielt, um sich ganz diesen Gerüchen hinzugeben, sah er ihr schönes Gesicht und sah ihre Augen, die auf ihn gerichtet waren, diese Augen von schwer zu beschreibender Farbe, die ihm so vertraut waren. Und er verstand, was sie zu ihm sagte, obwohl nichts zu hören war als das Zirpen der Grillen draußen auf der Wiese. »Reite nur weiter übers Gebirge«, sagte sie, »reite zu den Bergdachsen und tu, was du dir vorgenommen hast! Diese Erfahrung wirst du machen müssen, wenn auch eine Zeit kommen wird, in der du wünschen wirst, du hättest diese Erfahrung nie gemacht. Reite nur, mein Junge, aber versprich dir nicht zuviel davon.«
    Lauscher fragte sich, was er sich von diesem Ritt versprach. Vorteile für Arnis Leute? Oder ging es ihm nur um Narzia? Und welches von beiden hatte Urla gemeint, als sie sagte, er solle sich nicht zuviel davon versprechen? Er versuchte, sich Hönis Tochter vorzustellen, aber es wollte ihm nicht gelingen, ihr Bild aus der Erinnerung hervorzuholen. Die Gegenwart der alten Frau erwies sich als mächtiger und hüllte ihn ein in einen Strom des Wohlwollens, der ihm das Herz wärmte, und je länger er in der Stube saß, desto stärker wuchs in ihm der Wunsch, hier zu bleiben und diesen Bereich, in dem er sich geborgen fühlte, nie mehr zu verlassen. Er spürte das Lächeln der alten Frau, als sie sagte: »Du bist noch lange nicht am Ziel, Lauscher. Reite jetzt weiter und vergiß deinen Stein nicht ganz, der jetzt auf der kalten Goldschale in Arnis Hütte liegt statt auf deinem Herzen, wo er hingehört.«
    Lauscher öffnete die Augen und blickte auf die blankgescheuerte Tischplatte, auf der einmal vor langer Zeit Arnis Stein gelegen hatte. Er strich mit der Hand über das schrundige Holz, stand auf und ging zur Tür. Noch einmal nahm er mit einem tiefen Atemzug den Duft von Urlas Behausung in sich auf, als könne er ihn mit auf die Reise nehmen. Dann ging er hinaus und verschloß die Tür

Weitere Kostenlose Bücher