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Stein und Flöte

Stein und Flöte

Titel: Stein und Flöte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hans Bemmann
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hingelagerten Bergrücken aufstieg.
    Sobald Arnilukka aus dem Schatten der letzten Fichten auf die übersonnte Bergwiese hinausritt, trieb sie ihr Pony zum Galopp, um als erste oben auf der Höhe des Jochs zu sein. Der Wind blies ihr Haar zur Seite, sie jauchzte vor Vergnügen, wieder freien Ausblick zu haben, und hatte offenbar ihre Angst vom einen zum anderen Augenblick vergessen. Oben auf dem höchsten Punkt wartete sie auf die beiden Männer, die ihr langsam nachgeritten waren. »Von hier aus kann man die ganze Welt sehen!« rief sie ihnen entgegen und fragte, als die Reiter herangekommen waren, ob man an diesem Platz nicht die ohnehin fällige Mittagspause einlegen könne. Promezzo hatte nichts dagegen einzuwenden, und so stiegen alle drei ab und ließen ihre Pferde auf der würzigen Weide grasen.
    Die Aussicht war in der Tat beeindruckend, und wenn man auch nicht die ganze Welt sehen konnte, so war es doch zumindest Arnilukkas Welt, die man von diesem höchsten Punkt aus überblicken konnte. Nach Süden hin teilte der gewundene Bachlauf, dem sie lange Zeit gefolgt waren, die bewaldeten Kuppen und Hügel, bis er das Tal von Arziak erreichte, das fern unten im Dunst die wellige Landschaft durchschnitt; weiter nach Südosten hin erhob sich die schroffe, von Felszacken gekrönte Barriere des Gebirges, und nach Norden öffnete sich der Blick in ein weites, flaches Wiesental, das rings von Wäldern umschlossen war; doch der Blick reichte noch weiter: Im Nordosten jenseits des Waldgürtels flimmerte die endlose Ebene der Steppe und verschmolz am Horizont mit dem blaßblauen Himmel. Lauscher konnte Arnilukkas Begeisterung verstehen und freute sich, daß sie eine Weile hierbleiben würden.
    Nachdem sie etwas von ihren Vorräten gegessen hatten, lief Arnilukka auf die Bergwiese hinaus, um Blumen zu pflücken. Promezzo zeigte Lauscher inzwischen markante Punkte der Landschaft zu ihren Füßen, benannte Berge und Täler und beschrieb die Lage der Ansiedlungen, die verborgen hinter Wäldern lagen. »Das Flachtal, das man von hier aus in seiner ganzen Ausdehnung überblicken kann«, sagte er, »ist seit Alters her unser Weidegebiet; denn das Tal von Arziak ist zu schmal, als daß man dort größere Viehbestände halten könnte. Aber das Flachtal hat noch einen weiteren Vorteil. Siehst du den Bach, der es durchfließt? Wenn du seinem Lauf nach Osten bis zur Quelle folgst, gerätst du zunächst wieder in die Wälder. Doch dort, wo der Wald zu Ende ist, bricht der Boden in der gesamten Breite des Tals zu einer steilen Felswand ab, die von der Steppe aus kaum zu ersteigen ist, vor allem nicht für Pferde, und so sind unsere Herden vor jedem Angriff der Beutereiter geschützt.«
    Lauscher war der Beschreibung des Erzmeisters mit den Blicken gefolgt und schaute nun wieder hinaus in die ferne Steppe, in deren silbern flimmernder Unendlichkeit irgendwo Hunli mit der Horde dahinjagen mochte, vielleicht auf einer Spur, die ihn schließlich zum Dorf von Arnis Leuten führen würde.
    Aus solchen Gedanken wurde Lauscher unversehens von einem Schrei hochgeschreckt, der vom Waldrand heraufgellte. Zugleich mit Promezzo sprang er auf und schaute hinunter. Arnilukka rannte wie gehetzt am Waldrand entlang und schrie immer wieder ein Wort, das Lauscher aus dieser Entfernung nicht verstehen konnte. »Was hat sie?« fragte er den Erzmeister. Promezzo spähte hinunter zum Wald und zeigte dann mit einer jähen Handbewegung auf eine Stelle, an der das Mädchen eben noch gewesen war. Da sah auch Lauscher die gestreckten Schatten zwischen den verkrümmten Stämmen dahinhuschen. »Wölfe!« rief Promezzo, griff nach Jagdbogen und Köcher und rannte den Hang hinunter. Da packte auch Lauscher sein Schießzeug und lief ihm nach.
    Arnilukka hastete auf einen einzelnen Baum zu, der ein Stück vor der Waldgrenze auf der Wiese stand, doch als sie ihn erreicht hatte, stolperte sie über einen Stein oder eine herausragende Wurzel und stürzte ins Gras. Inzwischen waren die beiden Männer schon fast auf Schußweite herangekommen, aber auch die Wölfe, zwei riesige graue Tiere, brachen jetzt aus dem Wald und jagten auf das liegende Mädchen zu. Vielleicht hatte Arnilukka sich verletzt oder war vor Entsetzen gelähmt; jedenfalls unternahm sie keinen Versuch, wieder auf die Beine zu kommen. Es war klar, daß die Wölfe bei dem Mädchen sein würden, ehe die Männer es erreichen konnten. »Wir müssen schießen!« schrie Promezzo Lauscher im Laufen zu. »Ich nehme

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