Stein und Flöte
vor rätselhaft, woran sich diese Leute hier orientierten, wo nichts zu sehen war als Gras so weit das Auge reichte. Er schloß zu dem Vorreiter auf und fragte ihn: »Wie findest du dich hier zurecht? Hältst du dich an den Stand der Sonne?«
»Unter anderem«, sagte Blörri, »aber das allein würde nicht genügen, sonst könnte es passieren, daß wir ein paar Pfeilschuß weit am Lager vorbeireiten. Schau dorthin!« Er zeigte mit der Hand zum Horizont und blickte Lauscher erwartungsvoll an, aber der konnte nichts erkennen als sonnenflimmernde Steppe und sagte ihm das auch.
»Achte auf die Farben!« sagte Blörri.
Lauscher strengte seine Augen an und sagte dann: »Kann es sein, daß dort vorn das Grün ein bißchen dunkler ist?«
»So ist es«, sagte Blörri. »Dort ist eine Wasserstelle, und das Gras ringsum hat mehr Saft. An diesem Wasserloch werden wir unsere Pferde tränken, und dann reiten wir in Richtung auf den Wolfsrücken weiter.«
»Und wo ist dieser Wolfsrücken?« fragte Lauscher. »Kann man ihn jetzt schon sehen?«
»Ein kleines Stück weiter links am Horizont«, sagte Blörri.
Jetzt, wo es ihm gezeigt wurde, sah es auch Lauscher: Eine kaum merkliche Erhebung störte dort die sonst schnurgerade Grenze zwischen Steppe und Himmel, und als sie einige Zeit später über den Wolfsrücken ritten, begriff Lauscher auch, warum man diese flache Bodenwelle so nannte: Auf ihr war das Gras struppig und grau wie ein Wolfspelz. »Der Boden ist hier trocken, und deshalb verdorrt das Gras vor der Zeit«, sagte Blörri.
Sie waren sieben Tage unterwegs, und während dieser Zeit lernte Lauscher, daß er kaum imstande war, die unscheinbaren Landmarken der grenzenlosen Ebene wahrzunehmen, wenn er nicht darauf hingewiesen wurde. Er war zwischen Hügeln, Bächen und Wäldern aufgewachsen, in einer Landschaft voller deutlicher Abwechslungen und markanter Unterschiede an Bodenform und Pflanzenbewuchs und fühlte sich auch deshalb nicht wohl in der Steppe. Zudem merkte er auch, daß es wohl ein Nachteil sein konnte, wenn man sich daran gewöhnt hatte, nur Dinge zu beachten, die auf den ersten Blick ins Auge fielen. Wenn es dann darauf ankam, die kaum spürbaren Abweichungen des scheinbar Gleichförmigen zu erkennen, war er so gut wie verloren. Das, was ihm reizvoll und vertraut erschien, hatte zugleich seine Sinne abgestumpft. Er versuchte sich vorzustellen, wie ein Bewohner der Steppe sich freuen mochte, wenn er von ferne diese ein wenig dunklere Schattierung von Grün erblickte oder die kaum meßbare Erhöhung des Wolfsrückens, aber er konnte diese Freude nicht nachempfinden. Die Steppe machte ihm angst in ihrer gnadenlosen Flachheit und unbegrenzten Ausdehnung, die weder ein Berg oder auch nur ein Baum in ein festes Maß zwang.
Gegen Abend des siebenten Tages kamen ihnen Reiter entgegen. »Dort ist das Lager des Khans«, sagte Blörri und zeigte nach vorn, doch Lauscher sah nichts als das im Licht der Abendsonne flimmernde Steppengras. Der Reitertrupp jagte ihnen in gestrecktem Galopp entgegen und schien sie über den Haufen rennen zu wollen. Lauscher kannte jedoch schon diese Art, die Nervenkraft von Ankömmlingen auf die Probe zu stellen, und so nahm er diesen Scheinangriff mit einiger Fassung auf: Die Beutereiter rissen auch richtig ihre Pferde im letzten Augenblick herum und brachten sie zum Stehen. Ihr Anführer rief Blörri ein paar Worte zu und setzte sich dann an die Spitze der kleinen Schar, um sie ins Lager zu geleiten.
Nach einiger Zeit erkannte auch Lauscher die schwarzen Zelte voraus in der Ebene und fragte sich, wie Hunli ihn empfangen würde. Darüber hätte er sich allerdings keine Sorgen zu machen brauchen; denn als er mit seinen Pferdeführern vor dem Zelt des Khans abstieg, trat Hunli heraus und begrüßte ihn wie einen hochgestellten Gast. »Als wir einander das letzte Mal trafen«, sagte er, »hätte ich dich mit größerer Höflichkeit behandelt, Träger des Steins, wenn ich gewußt hätte, daß du der Erbe meines Bruders bist.« Diese Anrede wurde freundlich vorgebracht, aber der Vorwurf, der in diesen Worten lag, war nicht zu überhören; sie sagten zugleich, daß Lauscher die alleinige Schuld an allem trug, was damals geschehen war. Vielleicht wäre es besser gewesen, wenn er seinem Stein vertraut hätte, dachte Lauscher, doch dann faßte er sich und sagte: »Ich freue mich, Khan Hunli, daß du deinen Bruder Arni in mir ehrst, und ich danke dir für den freundlichen Empfang. Hier bringe ich
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