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Stein und Flöte

Stein und Flöte

Titel: Stein und Flöte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hans Bemmann
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lastete unmittelbar der blanke Himmel. Er fühlte sich wie eine Ameise im Gras, auf die jeden Augenblick irgendein ungeheurer Stiefelabsatz niedertreten kann, und zuletzt kroch er nur noch auf allen vieren wie ein Tier, aber der Gedanke an Umkehr kam ihm überhaupt nicht in den Sinn. Und dann wurde der Boden vor ihm unversehens abschüssig. Steinauge klammerte sich an einen wippenden, schlangengleich gewundenen Ast, sein Kopf tauchte hervor zwischen den letzten Zweigen, und er blickte über steil absteigende Baumwipfel hinaus in ein weites, flaches Tal, durch dessen fast unwirklich grüne Wiesen sich ein Bachlauf schlängelte, in dem sich die Sonne spiegelte, und weit in der Ferne, wo das unglaubliche Grün schon im Dunst verschwamm, weideten Pferde.
    Lange lag er so im heißen, harzigen Duft der Latschen und versuchte eine Erinnerung zu fassen, die der Anblick dieser weiten, grünen Fläche in ihm weckte. Ihm war, als habe er das alles schon einmal gesehen, wenn auch unter einem anderen Blickwinkel, aber es gelang ihm nicht, einen Zusammenhang mit irgendeinem früheren Erlebnis herzustellen. War da nicht ein Kind bei ihm gewesen? Oder hatte er dieses Bild irgendwann geträumt? Er wußte es nicht.
    Das Wiesel, das sich zuletzt seinen eigenen Weg gesucht hatte, kam jetzt an seine Seite und lugte hinunter ins Tal. »Bist du jetzt zufrieden?« fragte es.
    »Zufrieden?« sagte Steinauge und wußte nicht recht, was er mit diesem Wort anfangen sollte. »Ich weiß nur, daß ich in dieses Tal hinunterklettern muß, aber frag mich nicht, warum.«
    Während des mühsamen Abstiegs über den Steilhang versuchte er sich nach Möglichkeit im Schutz der schütter verteilten Kiefern und Bergweiden zu halten. Weiter unten, wo das bewaldete Gelände sich schon flacher dem Talboden zuneigte, lockte als Ziel ein riesiger, dunkel belaubter Bergahorn. Als er endlich aufatmend in den Schatten von dessen breiter Krone eintauchte, entdeckte er, daß darunter der Talbach entsprang. Das Quellbecken war von bemoosten Felsbrocken eingefaßt, die das Wasser zu einem kleinen Teich aufstauten, ehe er zwischen Erlen und Birken, jungen Linden und Ligusterbüschen den Wiesenhängen zurann.
    Hier schlug er sein Nachtlager auf. Auch dem Wiesel behagte dieser Platz. Es brachte nach kurzer Zeit eine Wildtaube geschleppt, die es offenbar beim Trinken erwischt hatte, so daß Steinauge nicht hungrig einzuschlafen brauchte. Satt und wohlig müde von dem steilen Abstieg legte er sich in das weiche Waldgras neben der Quelle, hörte zu, wie der Wind in der Krone des Ahorn rauschte und der Bach glucksend über die Steine rann, und starrte schläfrig ins Dunkel. Die Erlenbüsche hockten draußen wie dicke, bis zum Kinn vermummte Trolle, und dazwischen hoben sich hell die schlanken Stämme der Birken ab. Wenn der Wind in ihre Zweige fuhr, bewegten die Birken ihr Geäst wie tanzende Mädchen, die mit geschlossenen Füßen im Gras stehen und ihren Oberkörper leicht hin- und herwiegen. Dann regten sich auch ihre Beine, die Füße verließen ihren Platz, schwebten über den Boden, die blassen Leiber glitten hin und her zwischen den schwarzen Büschen, schimmernde Arme wurden ausgebreitet, schwangen zur Seite, faßten einander bei den Händen, lösten sich wieder, und dann begann ein wirbelnder Tanz, in dem sich alle in wachsender Geschwindigkeit umeinander drehten, in das Rauschen und Plappern der Blätter mischten sich ein leises Kichern und ein jäh ausbrechendes Lachen.
    Steinauge setzte sich auf und sah, wie der Kreis der Tanzenden sich zusammenzog zu einem aufschäumenden Strudel von schimmerndem Licht und dann wieder zu einzelnen Gestalten auseinanderfloß, Irrlichter, die über den Rasen huschten, und eine dieser Gestalten tanzte geradewegs auf ihn zu, war unversehens schon unmittelbar vor ihm, ein lebendiger und dennoch fast körperloser Wirbelwind mit fliegendem Haar, das ein birkenhelles Gesicht wie Wasser umspülte, ein Gesicht, das nie dort war, wo er es gerade suchte, als sei es gleichzeitig überall und nirgends, mit Augen, die ihn von allen Seiten anschauten und sich doch nicht lange genug halten ließen, daß er ihren Blick erwidern oder auch nur entscheiden konnte, ob sie nun bernsteingelb schimmerten oder moosgrün; denn im nächsten Augenblick waren sie schon wieder dunkler als die Nacht im Schatten der Bäume, doch er wollte diesem Dunkel auf den Grund gehen, stand auf und versuchte unbeholfen nach der Gestalt zu fassen, folgte ihr und trat heraus

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