Stein und Flöte
Stein trug sie in einem Netz aus Silberdraht an einer Kette um den Hals. Ich habe ihn gleich wiedererkannt, als ich ihn bei dir sah. Diese Frau hieß Urla und hatte sehr schöne Augen.«
»Jetzt kann ich mir erst vorstellen, wie alt du bist«, sagte Steinauge. »Arni war mit einer Enkelin Urlas verheiratet und hat sie nur noch als uralte Frau gekannt, als er selber jung war. Seine Tochter Akka hatte schon weiße Strähnen im Haar, als sie mir Urlas Geschichte erzählte.«
Der Zirbel lachte leise, als er das hörte. »Ihr Menschen müßt euch dranhalten mit dem Kinderkriegen«, sagte er dann. »Wahrscheinlich seid ihr deswegen so ungeduldig und wollt immer alles auf einmal haben. Wer ungeduldig ist, verkürzt die Zeit, die er zum Leben hat. Meine jüngsten Kinder waren noch kein Jahr alt, als mich der Blitz traf, und ich freue mich darüber, daß sie mit ansehen konnten, wie ihr Vater, der zugleich ihre Mutter ist, zum Zirbel ausgewählt wurde.«
»Vater und zugleich Mutter?« wiederholte Steinauge verblüfft, doch dann begriff er und sagte: »Ich habe vergessen, daß du eigentlich ein Baum bist. Seit ich mit dir reden kann, habe ich dich für einen Mann gehalten.«
Wenn der Zirbel mit den Schultern hätte zucken können, dann hätte er es jetzt wohl getan. »Ein Mann, was bedeutet das schon?« sagte er. »Kommt es darauf an? Ihr Menschen seid recht unvollkommene Geschöpfe, daß ihr immer nur eine Hälfte des Lebens in euch habt.«
Steinauge fand es ziemlich überheblich, wie dieser hölzerne alte Knacker von den Menschen sprach, und das ärgerte ihn. »Jetzt bist du nur noch ein Stück Holz«, sagte er, »auch wenn du reden kannst. Aber mit dem Kinderkriegen ist es für dich vorbei.«
Wenn er gemeint haben sollte, den Zirbel damit übertrumpfen zu können, so hatte er sich geirrt, denn der hölzerne Geselle kicherte in sich hinein und sagte: »Einstweilen habe ich noch genug Leben in mir, um auch dir ein Stück davon abzugeben, du bocksbeiniger Tropf!«
Schon bei diesen letzten Worten hatte die Stimme des Zirbels begonnen, sich zu wandeln; sie klang durchaus nicht mehr spöttisch, wie man hätte meinen können, sondern eher freundlich und liebevoll, so wie eine Mutter zu ihrem Kind spricht, das sie trösten will, und zugleich spürte Steinauge, wie der süße, harzige Duft von dem braunvioletten Fleck am Hinterkopf des Zirbels aufstieg und ihn einhüllte in der zärtlichen Umarmung, mit der die blaubereiften, harztropfenden Schuppen den Kern im Zapfen umschließen. »Du hast noch viel Zeit«, sagte die sanfte Mutterstimme der Zirbelin. »Du mußt nur lernen zu warten. Dem Ungeduldigen läuft alles davon, aber alles kommt zu dem, der warten kann.«
Während er der Stimme zuhörte und den Zirbenduft in sich aufnahm, spürte Steinauge, wie die Lebenskraft dieses uralten Wesens, das durch Jahrhunderte hindurch zahllose Nachkommen in die Welt gesetzt hatte, in ihn einging und seinen Körper wärmend durchströmte. Er legte sich auf sein Laubbett zurück, schloß die Augen, und schon im gleichen Augenblick, klarer und deutlicher als jedes Traumbild, sah er wieder dieses Mädchen mit den merkwürdigen Augen auf sich zulaufen. Auch diesmal trat er hinter den Büschen hervor, doch das Mädchen erschrak nicht, sondern lief weiter und lachte, und je näher es kam, desto größer schien es zu werden, die kindlichen Züge wandelten sich zu dem schönen Gesicht einer jungen Frau, die ihre Arme ausbreitete, während sie die letzten Schritte auf ihn zusprang.
Bald darauf war das Gras zwischen den Büschen schnittreif, so daß Steinauge mähen und Heu einbringen konnte. Auch in diesem Jahr beobachtete Einhorn kopfschüttelnd diese sonderbare Geschäftigkeit, aber er enthielt sich wenigstens jeder spöttischen Bemerkung. Offenbar war ihm doch ein Rest an Erinnerung verblieben, daß solches dürre Gras sich zu einer Zeit, die ihn angesichts der saftigen Wiesen allerdings wenig kümmerte, als nahrhaft erwiesen hatte. Sobald die Heuernte dann unter dem Höhlendach lag, hielt Steinauge nichts mehr. Er hängte seine Ziegenhaartasche, gefüllt mit den restlichen Haselnüssen, über die Schulter, nahm den Zirbel zur Hand und machte sich auf den Weg, diesmal nach Süden, denn dort hoffte er seinen Freund Nadelzahn zu treffen.
Den ganzen Tag lang trottete er am Fuß der Felswand durch das Buschwerk. Erst gegen Abend begann der Boden anzusteigen, und der Hochwald trat dicht heran, so daß Steinauge nun nicht mehr gezwungen war,
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