Stein und Flöte
wenigstens sehen? Es hat so schöne Augen.«
Die Wasserfrau schaute ihn mitleidig an und sagte: »Du wirst es wieder drüben in dem flachen, grünen Tal finden. Aber versprich dir nicht zu viel davon. Wer ungeduldig ist, verlängert die Zeit des Wartens.«
»Etwas ähnliches hat Rinkulla auch gesagt«, erwiderte Steinauge.
»Dann merk dir’s!« sagte die Wasserfrau. »Rinkulla ist älter und weiser als ich.« Jetzt lachte sie schon wieder, rief noch: »Vielen Dank für das schöne Lied!«, glitt für einen Augenblick unter den stürzenden Wasserfall, der sie mit blitzenden Tropfen völlig übersprühte, tauchte platschend unter, daß das Wasser bis zum Ufer herüberspritzte, und kam nicht mehr zum Vorschein.
Das Wiesel schüttelte ärgerlich seinen Pelz und sagte: »Ich hatte nicht im Sinn, ein Bad zu nehmen. Muß denn hier jedermann ständig herumplanschen? An diesem See bleibe ich nicht länger! Du willst doch sicher hinüber in dieses Tal?«
»Ja«, sagte Steinauge, »auch, wenn ich auf dem Joch wieder durch das niedrige Latschengebüsch kriechen muß.«
»Mach dir keine Sorgen«, sagte das Wiesel. »Ich kenne einen Weg, auf dem man immer im Schatten der Bäume bleiben kann. Allerdings werden wir ein Stück klettern müssen.«
Es führte ihn zu einer Stelle, an der die Felswand durch eine schmale Kluft gespalten war. Das Wiesel kletterte voraus und zeigte Steinauge, wie man sich hier Tritt für Tritt nach oben arbeiten konnte. In halber Höhe schien es nicht weiterzugehen. Steinauge suchte über sich die Wand ab, aber da war nirgends ein Riß oder eine Stufe, nur glatter, senkrecht abfallender Fels.
»Was suchst du dort oben?« sagte Nadelzahn. »Hier geht’s weiter!« und schlüpfte in ein ausgewaschenes Loch, an dem die Kluft endete. Steinauge kroch ihm nach und fand sich in einem schmalen Gang, der schräg aufwärts führte. Offenbar hatte sich hier in früheren Zeiten ein Bach eingefressen, denn der Boden war lehmig und von Geröll bedeckt. Zunächst schien es ihm, als kröche er immer weiter in die Tiefe des Berges, doch nach einer Weile sickerte von oben Licht durch eine Spalte herein, zugleich wurde der Anstieg flacher, die Kluft weitete sich, und gleich darauf führte dieser sonderbare Weg aus der Beengung heraus und mündete oben in einem dichten Fichtenbestand.
»Nun brauchen wir nur immer weiter nach Westen zu gehen«, sagte das Wiesel.
Zwei Tage lang wanderten sie weiter durch dunkle Wälder, in denen die Fichten so dicht beieinander standen, daß Steinauge froh war über sein dichtes Fell, das ihm die kratzenden Zweige vom Leibe hielt. Selbst mittags herrschte hier nur grünes Dämmerlicht, und auf dem von braunen, verrotteten Nadeln bedeckten Boden wuchs nichts außer ein paar bleichen Sommerpilzen. Nur selten scheuchten sie ein Tier auf, und das Wiesel hatte Mühe, am Abend für einen Braten zu sorgen. Am dritten Tage begann sich die Gestalt der Bäume zu ändern. Der Weg war bisher nie sonderlich steil gewesen, war aber doch beständig angestiegen, so daß die Wanderer inzwischen eine beträchtliche Höhe erreicht haben mußten. Die Fichten standen hier lockerer und wuchsen niedriger. Ihre gedrungenen Stämme waren häufig gegabelt oder zu grotesken Formen verkrümmt, und an den Zweigen wehten lange, graue Flechten. Sie sehen aus wie uralte Männer mit bleichem Zottelhaar und grauen Bärten, dachte Steinauge, und er hatte das Gefühl, diesen Wald zu kennen, konnte sich aber nicht erinnern, wann er hier je gewesen sein sollte. Hatte sich damals nicht irgend jemand vor diesen Bäumen gefürchtet? Aber wer war das gewesen? Er grübelte darüber nach, doch es wollte ihm nicht einfallen. Schließlich schreckte ihn das Kreischen eines Tannenhähers aus seinen Gedanken. Er blickte in die Höhe und sah den braungefiederten Vogel aus einem Wipfel abstreichen. Er flog ein Stück voraus und verschwand dort zwischen den Zweigen einer bizarr verdrehten Wetterfichte. Und weiter oben, wo die Bäume immer spärlicher standen, öffnete sich der Blick auf eine grasüberwachsene Kuppe, über der ein Schwarm Bergdohlen kreiste.
»Wir steigen noch hinauf bis zu den letzten Bäumen«, sagte das Wiesel. »Danach werden wir wohl am Waldrand entlang weitergehen müssen, obgleich der kürzere Weg über die Bergkuppe führt. Aber den wirst du nicht nehmen wollen.«
»Ich kann es nicht, selbst, wenn ich’s wollte«, sagte Steinauge und ging rasch weiter. Der Anblick der sanft gewölbten Bergwiese schien ihm so
Weitere Kostenlose Bücher