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Stein und Flöte

Stein und Flöte

Titel: Stein und Flöte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hans Bemmann
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Mädchens zuhörte, erinnerte er sich, daß er dieses Lied nicht nur schon einmal an diesem See gehört hatte, sondern auch später noch. Er sah ein anderes Mädchen an einem Teich sitzen und dieses Lied singen, während zu seinen Füßen die Fische die Köpfe aus dem Wasser hoben, als könnten sie jedes Wort verstehen. Dann schaute das Mädchen für einen Augenblick zu ihm herüber, und er sah ihre Augen, Augen von schwer zu beschreibender Farbe, die ihm so vertraut waren, als kenne er sie seit je her.
    Sobald das Lied zu Ende war, verlöschte dieses Erinnerungsbild, und er sah wieder das Mädchen aus dem Fischerdorf neben dem Flöter sitzen und mit den Beinen baumeln. Die Kinder waren während des Spiels näher gekommen und drängten sich um die beiden. Ganz vorn stand ein schmächtiger, etwas bläßlicher Junge, dessen Kleider dreckverschmiert waren, als habe man ihn eben aus dem Sumpf gezogen. Er schaute den Flöter mit großen Augen an und sagte: »So möchte ich auch gern spielen können!«
    Die anderen Kinder lachten ihn aus, und ein Junge rief spöttisch: »Der kleine Hurlusch möchte ein Flöter werden! Dann fiept er wie eine Maus, wenn wir ihn ins Wasser tunken!«
    Der Sanfte Flöter schaute den, der das gesagt hatte, scharf an und sagte: »Den kleinen Hurlusch habt ihr wohl vorhin dort draußen in das Sumpfloch gesteckt? Warum habt ihr das getan?«
    »Wir haben Hinrichtung gespielt«, sagte der Junge. »Einer muß ja der Verbrecher sein.«
    »Und am besten der Schwächste, der sich nicht wehren kann«, sagte der Sanfte Flöter. »Vielleicht sollte man beim nächsten Mal dich dazu wählen.« Seine Augen sahen jetzt gar nicht mehr fröhlich aus. »Am besten fragst du Rulosch, was er von solchen Spielen hält«, sagte er noch. Dann wendete er sich dem kleinen Hurlusch zu, dem der Spott der andern schon die Tränen in die Augen getrieben hatte, und sagte: »Komm her, Hurlusch, und setz dich neben mich!«
    Der Junge ging zu ihm herüber, setzte sich an seine andere Seite und starrte den Flöter noch immer an wie ein Wundertier. »Willst du wirklich Flöte spielen lernen, Hurlusch?« fragte der Sanfte Flöter, und als der Junge nur stumm nickte, zog der Flöter eine kleine hölzerne Flöte aus seiner Tasche und gab sie ihm in die Hand. »Dann sollst du gleich deinen ersten Unterricht bekommen«, sagte er und zeigte dem Jungen, wie er seine Finger auf die Löcher der Flöte setzen mußte. »Schau genau her!« sagte er dann. »So flötet die Amsel.« Er spielte auf seinem Instrument eine aufsteigende Folge von drei Tönen. »Jetzt du!« sagte er dann. Und der Junge flötete ohne Fehler den gleichen Amselruf.
    »Aus dir wird ein großer Meister werden!« sagte der Flöter, und seine Stimme ließ keinen Zweifel daran, daß er diese Worte ernst meinte. Auf die anderen Kinder blieb das nicht ohne Eindruck. Das Spotten war ihnen jedenfalls vergangen, und sie schauten den kleinen Hurlusch jetzt mit ganz anderen Augen an. Der schmächtige Junge merkte das jedoch überhaupt nicht, sondern probierte den Amselruf noch einmal, und das gelang ihm so überzeugend, daß man versucht war, sich umzusehen, wo der Vogel saß, der so schön flötete.
    »Ausgezeichnet!« sagte der Sanfte Flöter. »Und jetzt ein richtiges Lied. Es handelt von einem, der zu Stein erstarrt irgendwo im Wald steht und darauf wartet, daß ihn jemand findet und wieder zum Leben erweckt. Aber einer wie du wird schon aus der Melodie spüren, worum es dabei geht. Ich spiele es dir erst einmal vor, den Text sage ich dir später.«
    Schon bei den ersten Tönen schien ihm, als singe jemand den Text des Liedes mit, eine Mädchen- oder Frauenstimme, die anders klang, tiefer und klarer als jene des Kindes, das vorhin das Lied von Schön Agla gesungen hatte, und dieses Fischermädchen saß ja auch stumm neben dem Flöter und schaute zu, wie seine Finger über die silberne Flöte glitten. Doch als er sich vergewissern wollte, ob es wirklich nicht sang, waren weder dieses barfüßige Kind noch der Flöter mehr zu sehen, und auch das riedgedeckte Haus Ruloschs war ebenso verschwunden wie die weite Fläche des Sees, die sich eben noch unter der Abendsonne rötlich schimmernd bis zum fernen Waldgebirge am jenseitigen Ufer ausgebreitet hatte. Statt dessen umgab ihn flirrendes Grün in unendlicher Vielfalt von Schattierungen, deren Muster sich ständig auf eine verwirrende Weise änderten, die im Abendwind flatternden breiten Blätter der Ahornzweige und dahinter das

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