Stein und Flöte
Steins«, sagte Belarni, und an seiner Miene war abzulesen, daß er eigentlich eine Erklärung erwartet hatte, die nicht so einfach schien. Arni bemerkte das und sagte lächelnd: »Alle wesentlichen Dinge sind einfach, wenn man sie erst einmal begriffen hat. Schwierig ist nur der Weg, den man bis dahin gehen muß.«
Inzwischen führte der Weg in sanften Windungen um hohe Hügel, auf denen Buschwerk wuchs, Haselstauden und Holunder, später auch junge Buchen und Fichtengehölz, und bald darauf ritten sie neben einem Bach durch einen tief eingeschnittenen Hohlweg zwischen dicht bewaldeten Steilhängen dahin. Die Reiter blieben jetzt beieinander, hielten ihre Waffen schußbereit und spähten angespannt nach allen Seiten; denn hier war es leicht, an einer beliebigen Stelle einen Hinterhalt zu legen.
Er sah die Männer mit gespanntem Bogen im Unterholz hocken, ehe die Beutereiter sie bemerkten, und stieß unwillkürlich einen warnenden Schrei aus. Die Reiter schienen ihn nicht zu hören, sondern ließen ihre Pferde im Schritt weitergehen; nur Arni griff im gleichen Augenblick nach dem Kopfriemen von Belarnis Pferd, aber das konnte auch Zufall sein; denn der Weg war abschüssig und voller Geröll, das der Bach bei Hochwasser heraufgespült hatte. Dann zischten auch schon die ersten Pfeile aus dem Gebüsch, und zwei der Reiter stürzten getroffen aus dem Sattel. Der Anführer stieß einen Schrei aus, auf den hin die Reiter einen Regen von Pfeilen rings ins Unterholz verschossen, ihre Pferde herumwarfen und zurückgaloppierten.
Im Durcheinander der Umkehr waren Arni und der Junge an die Spitze der Reiter geraten, und so sah Arni als erster den Bogenschützen, der aufrecht im Gebüsch dicht neben dem Weg stand, um die Fliehenden aufzuhalten. Noch im Anreiten packte Arni den Jungen, riß ihn mit unglaublicher Kraft herüber zu sich, daß er bäuchlings auf die Kruppe seines Pferdes zu liegen kam. Belarni packte nach dem Sattelzeug, zog sich vollends hoch, setzte sich rittlings hinter seinen Onkel und hatte bei alledem noch nichts von der Gefahr bemerkt. Arni sah, wie der Pfeil von der Sehne schnellte, und hätte sich nur zu bücken brauchen, um ihm auszuweichen, aber statt dessen richtete er sich hoch im Sattel auf und breitete die Arme aus, um den Pfeil um jeden Preis aufzuhalten, der ihm einen Lidschlag später mit dumpfem Aufprall tief in die Brust fuhr. Einen Augenblick lang schien Arni wie erstarrt, dann versetzte er seinem Pferd einen heftigen Schlag, daß es sich wiehernd aufbäumte, und während er selbst aus dem Sattel glitt und krachend ins Unterholz stürzte, preschte das Pferd mit dem Jungen wie besessen allen andern voraus den Hohlweg hinan.
Auf solche Weise war Arni also zu Tode gekommen. Ob er wohl geahnt hatte, was geschehen würde, als er auf dem Ritt zu diesem Platz seinen Stein angeschaut hatte? Eine Zeitlang mußte er noch lebend im Gebüsch gelegen haben, jedenfalls bis zu dem Zeitpunkt, an dem er seinen Stein weitergegeben hatte. Bei dieser Überlegung wurde ihm plötzlich klar, daß auch er selbst in dieses Bild gehörte und irgendwo unter den Bogenschützen im Unterholz gekauert hatte, bis der kurze Kampf vorüber war. Er versuchte, das eben Erlebte noch einmal in seiner Erinnerung ablaufen zu lassen und im Dickicht der Abhänge zu beiden Seiten des Pfades jenen zu erkennen, der er selbst einmal gewesen sein mußte, aber keines der Gesichter, deren er sich entsann, glich jenem, das sich zu seinen Füßen auf der leicht bewegten Oberfläche des Quellteichs schwankend spiegelte. Vergebens bemühte er sich, irgendeine Entsprechung zwischen einer dieser flüchtig geschauten Gestalten und jener Figur zu entdecken, von der auf dem Wasser zwischen aufblitzenden Lichtreflexen immer nur einzelne Umrisse und Formen zu erkennen waren, ein in den felsigen Grund gestemmtes Bocksbein, die zottige Rundung der Hüfte, eine Hand, die eine Art von Knüttel gepackt hielt, der über der geschlossenen Faust in einem dicken, verknäuelten Knauf endete. Für einen Augenblick spiegelte sich dieses knorrige, holzbraune Gebilde deutlich über dem kiesigen Grund und ließ ein merkwürdig verzogenes Gesicht erkennen, ein dunkles Auge schaute zu ihm herauf, forschend, ja fast herausfordernd, als müsse er eigentlich wissen, wer ihn da anblickte. Und dann fiel es ihm ein. »Du bist der Zirbel«, sagte er in Gedanken.
»Wer denn sonst?« sagte der Zirbel ein wenig ungehalten. »Mit Gesprächen hast du mich nicht eben verwöhnt,
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