Stein und Flöte
»Jetzt wird es sich zeigen, ob sich der Falke hier aufhält. Aber auch in dieser Sache erwies sich der Rat der Forelle als verläßlich. Sobald Lauscher ein Stück talabwärts durch das Erlengebüsch gegangen war und von dort aus den Himmel absuchte, sah er weit in der Höhe einen Falken seine Kreise ziehen. Er flog viel zu hoch, als daß man ihn hätte rufen können, aber Lauscher wußte, daß dieser Falke selbst aus solcher Höhe noch eine Maus am Boden erspähen konnte. So zog er den Ring aus der Tasche und ließ den Stein in der Sonne blitzen.
Kaum hatte er das getan, als der Falke mitten im Flug für einen Augenblick anzuhalten schien, und dann stürzte er wie ein Stein aus dem Himmel. Er setzte sich auf einen Erlenast dicht über Lauschers Kopf und sagte: »Das ist mein Ring! Gib ihn mir!«
»Immer schön langsam!« sagte Lauscher und steckte den Ring an seinen kleinen Finger. »Im Augenblick habe ich dieses Zauberding, und ich werde mir gut überlegen, ob ich dich auch nur in seine Nähe lasse. Der Ring allein würde dir wohl auch nicht viel nützen, soviel ich weiß.«
»Also hast du auch die Kette«, sagte der Falke. »Hast du sie? Zeig sie mir!«
»Mit Vergnügen!« sagte Lauscher, holte die Kette aus der Tasche und ließ ihre Glieder in der Sonne funkeln. »Ich habe beides, und ich bin immerhin bereit anzuhören, was du mir für diese beiden Zauberdinge bieten würdest.«
»Du bist ein Dieb!« keifte der Falke. »Die Sachen gehören mir!«
»Gerade du solltest nicht so reden«, sagte Lauscher. »Ich habe beides in einem niedergebrannten Haus gefunden und an mich genommen. Und überdies kannst du ja sehen, daß ich bereit bin, mich mit dir darüber zu unterhalten. Was hast du mir also vorzuschlagen?«
Der Falke starrte ihn wütend aus seinen grünen Augen an und schwieg eine Weile. Dann sagte er: »Wenn du mir den Schmuck gibst, könnte ich dich von der Angst befreien, die dich befällt, sobald du dich unter freiem Himmel befindest.«
Dieses Angebot erschien Lauscher in der Tat verlockend. Er stellte sich vor, wie schön es sein mußte, wieder ungehindert durch Felder und Wiesen zu streifen oder so hoch ins Gebirge hinaufzusteigen, bis die letzten Bäume im Tal zurückblieben, und weiterzugehen über den kurzen Rasen der Almwiesen, aus denen der Duft von Thymian aufstieg. Und während er noch darüber nachdachte, sagte der Falke: »Dann würde dich auch nichts mehr daran hindern, mit dieser Frau zusammenzuleben, die dich als Faun hier gefunden hat und sich davor fürchtet, durch den Wald zu gehen.«
»Dafür ist es zu spät«, sagte Lauscher. »Sie hat schon lange einen anderen zum Mann genommen.«
»Spielt das eine Rolle, wenn du sie haben willst?« sagte der Falke.
»Ja«, sagte Lauscher. »Das spielt eine ganz entscheidende Rolle. Aber du bringst mich da auf einen Gedanken. Die Tochter, die mir diese Frau geboren hat, ist seit ihrer Geburt stumm, wie man sagt, und ich habe den Verdacht, daß dies mit der Wirkung deines Zaubers zu tun hat, der noch auf mir lag, als ich dieses Kind gezeugt habe. Vielleicht habe ich ihm auf diese Weise einen Rest meiner tierischen Natur vererbt. Ich will dir einen Vorschlag machen: Du sollst Ring und Kette bekommen, wenn du meiner Tochter Urla diese Stummheit nimmst. Kannst du das?«
»Natürlich kann ich das«, sagte der Falke. »Aber nur mit Hilfe dieser beiden Dinge. Du wirst sie mir also vorher geben müssen.«
»Das wird sich wohl nicht vermeiden lassen«, sagte Lauscher. »Es mag töricht von mir sein, daß ich dir dieses Vertrauen schenken will, aber vielleicht schlummert selbst in deinem Herzen noch ein Rest von Barmherzigkeit. Ich werde also eine Botschaft nach Arziak schicken, daß Arnilukka mit ihrer Tochter zu den Hirtenhäusern kommen soll. Dann will ich in der Holzfällerhütte auf sie warten. Ihre Ankunft wird deinen scharfen Augen nicht entgehen, und am Morgen danach wollen wir uns am Waldrand zwischen den Hirtenhäusern und der Hütte treffen. Wirst du kommen?«
»Darauf kannst du dich verlassen«, sagte der Falke. Dann breitete er seine Flügel aus und schwang sich hinauf in den Himmel.
An diesem Tage ritten sie noch talabwärts bis zu der Holzfällerhütte, und dort schickte Lauscher den Jungen hinüber zu den Hirtenhäusern. »Frage nach Wazzek oder nach dem Mann, der inzwischen seine Stelle eingenommen hat, und bitte ihn, zu mir in die Hütte zu kommen.«
Lauscher fand die Hütte unverschlossen. Er öffnete die Tür und ging durch den
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