Stein und Flöte
deiner Mutter diesen Vertrag abgesprochen hatte, war mir ein Traum in Erfüllung gegangen, den ich schon als Junge geträumt hatte. Warum muß es dann immer wieder Leute geben, die bei ihren alten Ansichten verharren und nicht begreifen wollen, daß es besser ist, in Freundschaft miteinander zu leben statt sich abzusondern? Kann man sie nicht zu dem zwingen, was man als das Richtige erkannt hat?«
»Nein«, sage Lauscher, »das kann man nicht, und das solltest du am besten wissen, wo du so oft mit Arni geritten bist. Es war jedenfalls seine Meinung, daß man keine Entscheidung über ändere Menschen fällen könne.«
»Dann werde ich meinen Traum nie vollkommen verwirklichen können«, sagte Belarni.
»So ist das doch immer mit Träumen«, erwiderte Lauscher. Er merkte, wie Arnilukka ihn anschaute, als er das sagte. Unter dem Blick ihrer Augen wurde ihm erst voll bewußt, daß er von sich selbst gesprochen hatte, und er fuhr fort: »Dennoch wäre es falsch, solche Träume zu vergessen, denn sie sind ein Zeichen dafür, daß es das Vollkommene gibt, auch wenn es unerreichbar scheint.«
Schneefink hatte sich bisher nicht an diesem Gespräch beteiligt, sondern nachdenklich vor sich hin auf die Tischplatte gestarrt. Jetzt hob er den Kopf und sagte: »Wäre es nicht unerträglich, eine solche Art von Vollkommenheit zu erreichen? Was gäbe es dann noch zu tun? Müßte man nicht in Bewegungslosigkeit erstarren, weil man sonst diesen Zustand der Vollkommenheit zerstören würde? Wenn ich auf meiner Flöte zu spielen beginne, habe ich eine Vorstellung von der vollkommenen Melodie, die ich finden möchte. Aber da sind dann meine Finger, deren Beweglichkeit eingeschränkt ist, im entscheidenden Augenblick geht mir der Atem aus, und auch das Instrument selber, so gut es auch sein mag, leistet mir Widerstand. Doch gerade darin liegt für mich der Reiz des Spielens: innerhalb der Grenzen, die mir gesetzt sind, mich an die vollkommene Melodie heranzutasten, die ich doch nie erreichen werde. Ich glaube überhaupt, daß Vollkommenheit nichts Festes und Endgültiges ist, sondern etwas, das sich immer weiter entfaltet. Ich kann sie mir jedenfalls nur als etwas Lebendiges vorstellen, und alles Lebendige wächst und verändert sich.«
»Du verstehst es, einem Hoffnung zu machen, Schneefink«, sagte Belarni, »und das scheint mir noch mehr wert zu sein als diese Fröhlichkeit, die der Lustige Flöter in unser Tal gebracht hat. Was hast du jetzt vor, Lauscher? Wirst du länger bei uns bleiben?«
»Einstweilen schon, wenn ihr mir wieder die Holzfällerhütte überlaßt«, sagte Lauscher. »Aber zuerst muß ich der Wasserfrau ihren Falkenschmuck zurückbringen.«
»Und wenn du wiederkommst«, sagte die kleine Urla, »mußt du mir auf deiner Flöte all die Lieder vorspielen, die meine Mutter von dir gelernt hat.«
»Das verspreche ich dir«, sagte Lauscher. »Bringst du mich jetzt wieder zu meiner Hütte? Wenn du mitgehst, kann ich es unter freiem Himmel schon ganz gut aushalten.«
Am nächsten Morgen sattelten Lauscher und Schneefink ihre Pferde, um sich auf den Weg zur Großen Felswand zu machen. Lauscher bemerkte, daß der Junge all seine Sachen zusammenpackte und sich auch noch reichlich mit Vorräten versorgte: »So lange werden wir nicht unterwegs sein, Schneefink«, sagte er.
»Du sicher nicht«, sagte Schneefink, »aber ich habe vor, mich ein bißchen in der Welt umzusehen. Viel mehr als das Dorf meiner Leute im Gebirge und dieses Tal kenne ich ja noch nicht. Du hast mir einmal von den Fischern am Braunen Fluß erzählt, zu denen nur selten ein Spielmann kommt, obwohl sie so gerne Musik hören. Diese Karpfenköpfe möchte ich besuchen, und vielleicht reite ich auch noch weiter flußabwärts bis nach Falkenor. Ich würde gern den Meister der Töne kennenlernen, der so seltsame Melodien aus nur fünf Tönen zu spielen versteht, und bei dieser Gelegenheit kann ich den Magiern ja auch gleich berichten, was aus Narzias Zauberschmuck geworden ist.«
»Du hast ja schon einen festen Plan!« sagte Lauscher. Es tat ihm leid, daß er den Jungen verlor, aber nach allem, was er an diesem Tag von ihm gehört hatte, wußte er auch, daß er ihm nichts mehr beibringen konnte. »Du hast recht, wenn du dich auf eigene Füße stellen willst«, sagte er deshalb. »Aber bis zum See unter der Felswand begleitest du mich doch noch?«
»Gern«, sagte Schneefink. »Aber wir müssen dann einen Weg wählen, auf dem ich bis zum See reiten kann. Denn
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