Steinbock-Spiele
Vorbereitungen verbringe ich eine Stunde im Gespräch mit einem Geheimagenten im Ruhestand, dessen Spionagelaufbahn ihn sicher in Hunderte von Gemeinschaften geführt hat, bis nach Threadmuire und Reed Meadow. Welchen Rat gibt er einem, der versuchen will, hinüberzukommen?
»Bewahren Sie Haltung«, sagt er. »Seien Sie zuversichtlich und selbstsicher, so, als gehörten Sie dorthin, wo Sie sich gerade befinden. Niemals heimlich auftreten. Stets wachsam sein. Immer auf der Hut.« Solche Regeln hätte ich auch ohne seine Hilfe aufstellen können. Er hat nichts an konkreten Hinweisen für das Überleben anzubieten. Jeder Distrikt stellt einzigartige Probleme, sagt er, die sich fortwährend ändern; nichts kann vorausgesehen werden, allem muß begegnet werden, wie es sich ergibt. Wie tröstlich!
Als es dunkel wird, gehe ich zum Seelenvater-Haus im Schatten des Turms von Ganfield. Ohne Segen fortzugehen, erscheint nicht klug. Aber mein Besuch hat etwas Inszeniertes, Unspontanes, und mein Glaube verflüchtigt sich, als ich eintrete. In der düsteren Vorkammer entzünde ich die neun Kerzen, ich pflücke die fünf Grashalme aus der Zeremonienvase, ich tue die anderen angemessenen rituellen Dinge, aber mein Geist bleibt kalt und hohl, und ich kann nicht beten. Der Seelenvater selbst, von meiner Mission unterrichtet, gewährt mir Audienz – ein hagerer, alter Mann mit undurchdringlichen Augen, die tief in knochigen Höhlen liegen – und bedenkt mich mit einer sanften, federleichten Umarmung. »Geh in Sicherheit«, murmelt er. »Gott wacht über dich.« Ich wäre froh, davon überzeugt zu sein. Auf dem Heimweg mache ich den größtmöglichen Umweg, so, als wolle ich von Ganfield so viel in mich hineinsaugen, wie das in meiner letzten Nacht noch möglich ist. Die schrumpfende Vergangenheit durchfließt mich wie ein vertrocknender Strom. Mein Geburtshaus, meine Schule, die Straßen, wo ich gespielt habe, das Schlafhaus, in dem ich meine Jugendjahre verbracht habe, das Haus meiner ersten Monats-Frau. Lebt wohl. Morgen gehe ich hinüber. Ich kehre allein in mein Appartement zurück; wieder schlafe ich unruhig; eine Stunde nach Tagesanbruch finde ich mich, selbst erstaunt, in der Reihe der Pendler am Zugang der Transit-Röhre, unterwegs nach Conning Town. Und so beginnt meine Reise.
6
In der Bahn spricht niemand. Die Gesichter sind angespannt, die Körper sitzen starr auf den Plastiksesseln. Gelegentlich sieht mich jemand von der anderen Seite her an, als frage er sich, wer dieser Neuzugang in der Pendlergruppe sein möge, aber die Augen zucken schnell zur Seite, wenn ich aufmerke. Ich kenne keinen von diesen Pendlern, obwohl sie so lange in Ganfield leben müssen wie ich; ihr Leben hat sich mit dem meinen noch nie gekreuzt. Ingenieure, Kaufleute, Diplomaten, was immer – ihre Laufbahnen sind mit anderen Distrikten verbunden, als mit ihrem eigenen. Es ist eine der Anomalien unserer immer bruchstückhafteren und vielschichtigen Gesellschaft, daß zwischen Kommune und Kommune noch ein regelmäßiger Kontakt besteht; eine gewisse Anzahl von Personen muß jeden Tag zu anderen Distrikten fahren, wo sie eingekapselt arbeiten, isoliert unter unfreundlichen Fremden.
Wir fegen mit unvorstellbarer Geschwindigkeit ostwärts. Gewiß haben wir die Grenze Ganfields schon hinter uns und befinden uns unter fremdem Gebiet. Eine Leuchttafel im Wagen zeigt unsere Route: CONNING TOWN – HAWK NEST – OLD GROVE – KINGSTON – FOLKSTONE – PARLEY CLOSE – BUDLEIGH – CEDAR MALL – THE MILL – MORTON COURT – GANFIELD, eine weitere Schleife durch unsere nächsten Nachbarn.
Ich versuche mir die einzelnen Glieder in dieser Kette von Distrikten vorzustellen, jedes eine Gemeinschaft von drei- oder vierhunderttausend loyalen und patriotischen Bürgern, jedes mit eigener Art, eigener Schattierung, besonderer Beschaffenheit, seinem Regierungsapparat, seinen Gebräuchen und Ritualen. Aber ich kann sie mir nur als eine Vielzahl von Ganfields vorstellen, jeder Ort ganz ähnlich jenem, den ich verlassen habe. Ich weiß, daß dem nicht so ist. Die Welt-Stadt ist nicht eine homogene Ansammlung von Gleichförmigkeiten, ein globaler Haufen ununterscheidbarer Vororte. Nein, es gibt eine unfaßbare Vielfalt, einen Schwarm einzigartiger Stadtkerne, die von den gemeinsamen Bedürfnissen zu einer zerbrechlichen Einheit zusammengefaßt werden. Kein Großplan hat sie entstehen lassen: jeder hat sich zu einem anderen Zeitpunkt entwickelt, um den Notwendigkeiten
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