Steinfest, Heinrich
Möglichkeit,
an der falschen Stelle zu stehen, da sich eine zweite Wohnung in diesem
Stockwerk befand. Allerdings prangten dort, auf dem mehrfarbig bemalten
Namensschild, fünf Vornamen, dazu gab es aufgeklebte Tierbilder sowie kleine
und große Schuhe auf der Matte, kurz, eine bunte Vielfalt, die eindeutig auf
eine Großfamilie verwies. Rosenblüt durfte also davon ausgehen, sich an der
richtigen Türe zu befinden.
Wollte Tobik nicht öffnen, oder konnte er nicht öffnen?
War er taub, schwerhörig oder jemand, der etwas zu verbergen hatte? Mal
abgesehen von der Möglichkeit, daß auch taube Leute mitunter etwas verbargen.
Rosenblüt beschloß, sich ein Bild zu machen, und
entschied, daß es sich um eine Gefahr-im-Verzug-Situation handelte, ohne
freilich die Kollegen zu rufen. Darum zog er jetzt eine Plastikkarte aus seiner
Hosentasche und stemmte seinen Fuß gegen die Türe, um einen Spalt zu bilden.
Auf Höhe des Riegels führte er die Karte in den Schlitz und erzeugte einen leichten
Druck, der bereits genügte, damit das Schloß aufsprang und die Türe sich nach
innen öffnete. Rosenblüt steckte die Karte wieder ein. Eigentlich hätte er nun
seine Waffe hervorholen müssen, aber er fühlte sich unwohl, so mit gezückter
Pistole. Einerseits, weil das immer aussah, als würde man eine Filmszene
nachstellen, und andererseits, weil jede Waffe die Gefahr barg, eine
Eskalation zu verursachen, die sich ohne diese Waffe nie ergeben hätte. Waffen
strebten dazu, benutzt zu werden. Projektile dazu, zu fliegen. Unglücke dazu,
zu geschehen.
Also ließ er seine Pistole im Halfter, schob die
Wohnungstüre wieder in Richtung des Rahmens, ließ sie aber um eine Winzigkeit
offen. In der Folge drang er mittels zweier vorsichtiger Schritte tiefer in den
Flur hinein, blieb dort stehen und horchte. Aber es gab nichts zu horchen,
nichts rührte sich, die Welt war ein toter Winkel. In diesem toten Winkel
arbeitete sich Rosenblüt weiter voran, wobei er nicht verhindern konnte, daß
der Holzboden unter seinen Schritten einen markanten Ton entließ, ein Klagen.
Was er hier vorfand, war eindeutig die Wohnung eines
Ehepaars, durchaus gemütlich, warm, mehrere Stile, einige Staubfänger, aber
nicht völlig geschmacklos. Keine Vorhänge, viele Bilder an den Wänden:
Gemälde, Fotos. Auf einem davon, schwarzweiß, ein Hochzeitspaar, steif, aber
glücklich. Rosenblüt meinte Cady zu erkennen. Keine Frage, Cady war Tobik.
Soviel schien festzustehen. Allerdings war dieser Tobik nirgends zu finden.
Obgleich das hier ja kein Palast war, sondern eine übersichtliche
Drei-Zimmer-Wohnung. Auch bestanden kaum Möglichkeiten, sich zu verstecken,
wenn man größer als einsvierzig war. Einzig ein Wandschrank, den Rosenblüt
öffnete, der aber nichts anderes als Anzüge und Mäntel enthielt. Die Dusche war
leer, einen Balkon gab es nicht, erst recht keine Feuerleiter, sämtliche Fenster
waren geschlossen, und das Doppelbett war zu niedrig, als daß ein
ausgewachsener Mann sich darunter hätte verstecken können.
Rosenblüt befand sich nun im hintersten Raum,
offensichtlich das Arbeitszimmer mit Schreibtisch und Trimm-dich-Rad. Er wußte
nicht, was er denken sollte. Er wollte gerade wieder gehen, da vernahm er den
dumpfen Klang eines rasch unterdrückten Räusperns. Er wandte sich um, sah in
die Richtung, aus der das Geräusch gekommen war, doch da war nichts, bloß eine
mit verschiedenfarbigem Streifenmuster tapezierte Wand, an dieser zwei Regale
mit Büchern.
Spinn' ich? fragte sich Rosenblüt und wollte den Raum
wieder verlassen, wandte sich aber just um, und zwar eingedenk der Überlegung,
es möglicherweise mit einer doppelten Wand zu tun zu haben, hinter welcher sich
Tobik verbarg. Er wollte ganz schnell...
Tschong!
Er war gegen etwas geprallt, das er nicht gesehen hatte,
etwas, das unsichtbar im Raum stand. Der Aufprall war heftig gewesen. Er fiel
zurück, sein Blick verschwamm. Dann sah er jemanden, der sich über ihn beugte.
Ein Mann mit einem Koffer in der Hand: Tobik. Tobiks Blick wirkte traurig,
bedauernd. Soviel meinte Rosenblüt noch zu erkennen. Hernach wurde es schwarz.
Aber richtig.
Einem dieser Zufälle, die recht hübsch durchkomponiert
scheinen, war es zu verdanken, daß genau zwei Stunden und eine Minute später
Teska Landau denselben Raum betrat. Diese Zeitspanne war bemerkenswert. Und
zwar deshalb, weil die derzeitige Fahrzeit von Stuttgart nach München zwei
Stunden und vierundzwanzig Minuten betrug und die
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