Steinfest, Heinrich
Welche sie
immer wieder zu lesen pflege. Zeitschriften ja, Noten auf dem Klavier, aber
kein einziges Buch.
"Wo sind die Bücher?" fragte Rosenblüt, der
schon auch nerven konnte.
Landau antwortete: "Hier steht der Computer."
Dann ging sie in die Küche, bereitete Kepler eine Schüssel mit Wasser und
öffnete eine Dose Katzenfutter. Ihre Katzen waren übrigens so unsichtbar wie
ihre Bücher.
"Haben Sie irgendeine Idee, was mit den weinenden
Löwen gemeint sein könnte?" rief Rosenblüt hinüber in die Küche, während
er gleichzeitig den Computer startete.
"Hm! Eigentlich nichts, was sich auf Stuttgart
beziehen ließe."
"Und ohne Stuttgart?"
"Na, da denke ich weniger an weinende, mehr an
schielende Löwen."
Das Internet wiederum, welches Rosenblüt jetzt befragte,
fragte umgehend zurück, ob er statt "weinende Löwen" nicht etwa "gähnende
Löwen" meine, gab aber gleichermaßen rasch bekannt, daß eine Skulptur
Rodins und ein kretischer Felsen diesen Namen trügen. Einen Moment später
erinnerte sich Rosenblüt an die genaue Formulierung Aydins: wo die Löwen
weinen.
Exakt diesen Satz gab er ein. Was er fand, war jedoch
wenig hilfreich: die übliche Präsenz zweier Begriffe im selben Text, zum
Beispiel einen deutschen Künstler, der mit seiner Installation "Was du
liebst, bringt dich auch zum Weinen" den Goldenen Löwen der Kunstbiennale
von Venedig errungen hatte. Oder der Vaihinger Löwe als Qualitätssymbol von
Lemberger Weinen. Es wurde noch schlimmer: "Der König der Löwen. Ich mußte
immer weinen, wenn ..."
Moment! König der Löwen?
Es war keineswegs so, daß Rosenblüt nun dachte, Aydins
Rätsel hätte in der Tat etwas mit dem Walt-Disney-Film zu tun, aber möglicherweise
besaß ja auch Aydin, ähnlich wie sein Cousin, eine cineastische Ader oder
kopierte zumindest dessen Vorliebe, in Filmzitaten zu denken. Eine Tendenz, die
Rosenblüt selbst durchaus nicht fremd war, sonst hätte er wohl kaum Lynchs
Lynch-Zitat von wegen If-you-do-good-and-if-you-do-bad identifizieren können.
Allerdings fiel ihm keine Filmszene ein, in der ein Ort beschrieben wurde, an
dem Löwen weinten.
Rosenblüt holte seine Geldbörse aus der Hosentasche.
Zwischen zusammengefalteten Rechnungen und obsoleten Fahrscheinen, die alle
zusammen ein Versteck bildeten, kramte er einen Zettel hervor, auf dem er sich
Lynchs E-Mail-Adresse notiert hatte, die ihm dieser gegeben hatte, unwillig,
versteht sich, und nur für den Fall der Fälle.
So ein Fall war eingetreten. Rosenblüt mailte dem
Cineasten die Frage: Wo ist der Ort, wo die Löwen
weinen? Ihr Filmfreund Rosenblüt. Mehr schrieb er nicht, um eine
voreilige und irreführende Einschränkung zu vermeiden. Zugleich ging er davon
aus, daß Lynch nichts über den Versuch seines Cousins wissen konnte, sich mit
einem Löwenrätsel aus der polizeilichen Umklammerung zu befreien. Die beiden
würden sicher eine ganze Weile auf Distanz bleiben. Möglicherweise hatte das
Augenausstechen in dieser Familie eine gewisse Tradition.
Rosenblüt stand auf und begab sich hinaus auf die
Terrasse. Die Sonne stand jetzt tief und verlieh jedem Gegenstand, jeder Blüte
und jedem Blatt eine Transparenz ganz in der Art der von Adern durchzogenen
Hundeohren. Dazu kamen lange Schatten, der Garten ein flachgedrücktes
Fakirbrett. Rosenblüt setzte sich und spürte das eigene Durchleuchtetsein. Er
fühlte sich ein klein wenig heilig und himmlisch. Da läutete sein Handy.
Rosenblüt drückte die Sprechtaste. Eine männliche Stimme
meldete sich: "Ich würde sagen: Manhattan."
"Bitte?!"
"Wo die Löwen weinen."
"Verdammich, Lynch, woher haben Sie meine Nummer?"
"Also, ich finde, daß, wenn Sie mit meiner
Mailadresse spielen, ich doch Ihre ach so geheime Handynummer haben darf. Das
ist nur gerecht. Sie wissen schon: Gleichgewicht der Kräfte."
"Erstens bin ich der
Polizist", erwiderte Rosenblüt, "und zweitens haben Sie mir Ihre
Mailadresse gegeben, ich Ihnen aber nicht meine Handynummer."
"Nun ja, das hängt wohl damit zusammen", sagte
Lynch, "daß eben ich der
Kriminelle bin und somit logischerweise was Illegales tun muß, damit ich
krieg', was ich brauch'. So hat alles seine Ordnung. Nicht in Ordnung ist
dagegen, daß Sie sich aufregen anstatt sich zu freuen, wenn ich Sie anrufe und
Ihnen etwas zustecke, was Sie offensichtlich selbst nicht herausbekommen."
"Sie haben recht, ich bin nur etwas erschrocken.
Also, zurück zu den Löwen. Was sagten Sie?"
"Ich sagte Manhattan. Das ist der Ort, wo die
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