Steinhauer, Franziska
Straße zu legen, nur um seine Rückkehr zu verhindern. Doch keine seiner geheimen Befürchtungen hatte sich bewahrheitet. Friedlich lag das Tal vor ihm, von der Herbstsonne durchflutet, und nichts deutete darauf hin, dass der Familie Gumper Schwierigkeiten ins Haus stünden. Der erste Schnee glitzerte auf den Wiesen am Hang, und der Wind blies eisig. Der Winter war in diesem Jahr früh ins Tal gekommen. Aber Jakob wusste, dass das nicht ungewöhnlich war. Als Kind hatte er in manchen Jahren den ersten Schnee schon im September erlebt.
Er seufzte.
Mehr als zehn Jahre waren vergangen – eine lange Zeit, in der sich die Gemüter beruhigt haben konnten. Vielleichtwar schon lange Gras über die damaligen Gerüchte und Verdächtigungen gewachsen, dachte er.
Und wenn nicht, war morgen früh noch genug Gelegenheit, das Gegenteil festzustellen.
Heiko und Helene schwiegen beim Abendessen am Tisch. An die Frau, zu der sie Tante Waltraud sagen sollten, und den unheimlichen kranken Mann, der in seinem Bett lag, konnten sie sich nur vage erinnern. Sicher, zwei oder drei Mal hatten die beiden sie in Köln besucht, aber dabei waren sie ihnen immer fremd geblieben. Heiko stupste Helene unter dem Tisch mit dem Fuß an. Auch ihm war die Rückkehr nach St. Gertraud nicht leicht gefallen.
Helene wusste, dass er den anderen Kindern die Schläge, die sie ihm damals verpasst hatten, nie verziehen hatte. Sie selbst lauschte in sich hinein und spürte ein heftiges Zittern, und auch wenn man es ihr äußerlich nicht anmerkte, es war da. Dieses Tal war ihr in ihrer Erinnerung immer seltsam traurig vorgekommen. An Lachen und Fröhlichkeit konnte sie sich so gut wie gar nicht erinnern.
Sie griff nach Heikos Hand, die neben ihr auf der Eckbank lag, und er drückte sie beruhigend. Natürlich wusste ihr Bruder, dass sie Angst hatte, obwohl sie versichert hatte, sie sei bereit, wieder in diesem dunklen, knarrenden Haus zu wohnen, das ein Eigenleben zu führen schien – schon, um nicht als feige zu gelten. Heiko hatte zwar versprochen, ihr zur Seite zu stehen, aber er konnte ja nicht immer bei ihr sein. Und was wäre, wenn der Täter von damals seine Chance erneut nutzen und wiederkommen würde? Heiko drückte ihre Hand noch fester. Es war ein Versprechen.
Als die Geschwister sich verabschiedeten und artig in ihre Zimmer verschwanden, sah Jakob ihnen mit gemischten Gefühlen nach. Hoffentlich würden die beiden sich andie vor ihrer Abreise getroffenen Abmachungen halten. Es wäre ein herber Schlag gegen ihre Bemühungen, im Tal wieder heimisch zu werden, wenn Heiko dabei beobachtet werden würde, wenn er wie ein wildes Tier getrieben und schweigsam durch die Dunkelheit huschte. Gerüchte entstanden, wie sie aus leidvoller Erfahrung wussten, schon aus geringerem Anlass mit atemberaubender Geschwindigkeit. Und seine Schwägerin würde sich sicher auch einiges über Helenes Zustand denken, fände sie einen Teller Suppe vor der Schranktür und das Mädchen selbst im Schrank zwischen Hosen und Blusen auf dem Boden kauernd. Nein, das musste nicht sein! Die Kinder hatten versprochen …
„Noch einen Tee?“, unterbrach Waltraud seine im Kreis umherirrenden Gedanken.
„Nein, danke. Anton sieht schlecht aus, nicht wahr?“
„Ja“, bestätigte die Schwägerin und stellte die großbauchige Kanne wieder auf den Rechaud zurück, „er verfällt von Tag zu Tag mehr. Vielleicht bilde ich mir das aber auch nur ein – er sieht so zerbrechlich aus zwischen den Kissen. Wo er doch immer so ein kraftvoller Mann war.“ Rasch wischte sie eine Träne fort, die ihr über die Wange rollte.
„Ja, er war immer der Stärkere von uns beiden“, bestätigte Jakob bedrückt.
„Ich glaube, es wäre eine große Beruhigung für ihn, wenn ihr nicht nach St. Gertraud geht. Ihm wäre es lieber, ihr würdet bei uns wohnen.“
„Du liebe Güte, Waltraud! Wir sind gerade einmal ein paar Stunden hier, und du redest von nichts anderem! Es ist mein Haus dort oben, und es gibt nicht den geringsten Grund, warum wir nicht darin wohnen sollten. Du hast selbst gesagt, es sei gut in Schuss.“
„Ja, das habe ich gesagt. Dein Anwalt kommt regelmäßig vorbei und überprüft den Zustand des Hofes. Er hat ein paar Reparaturen durchführen lassen, zwei Fenster ausgetauscht und das Schloss an der Haustür erneuert. Es ist alles in Ordnung. Ich habe den Strom eingeschaltet, den Kühlschrank in Betrieb genommen und eingekauft. Dennoch möchte ich, dass ihr hierbleibt.“
„Nenn
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