Steinhauer, Franziska
Freunde.
„Entführt? Aha!“
„Was können Sie uns denn über die beiden erzählen?
Freunde, Hobbys, Auffälligkeiten – was sind das für Jungs?“
Dr. Mendes zögerte.
Sein unsteter Blick fand Frau Ehrenfried, die ihm aufmunternd zunickte.
„Sehen Sie, die Dinge, die ein Schulpsychologe erfährt, sind vertraulicher Natur. Die beiden wären sicher verärgert, wenn ich etwas davon preisgeben würde.“
„Die zwei sind spurlos verschwunden. Möglicherweise helfen Ihre Informationen der Polizei bei der Befreiung der beiden aus Geiselhaft!“
„Nun gut. Wir haben speziell diese beiden Schüler mit besonderem Augenmerk begleitet. Frau Ehrenfried kam auf mich zu, als Mario vor einiger Zeit eine Toilettenanlage der Schule demolierte. Er trat gegen die Zwischenwände, bis sie große Defekte aufwiesen, riss die Toilettensitze ab, trat die Spülkästen ein, schlug drei Waschbecken mit einem Baseballschläger in Stücke. Er kam zu einem Gesprächstermin hierher, und nach anfänglicher Zurückhaltung fasste er Vertrauen.Mario ist der ältere zweier Söhne einer Familie mit sieben Kindern. Die Eltern haben weder Zeit für ihn noch Interesse an seinen Problemen. Die familiäre Situation eskalierte, als die letzte große Schwester das Haus verließ und er als nunmehr Ältester mit drei deutlich jüngeren Geschwistern zurückblieb.“
Ulf Mendes griff in einen Ordner und entnahm ihm einen handschriftlich geschriebenen Stundenplan.
„Ich bat ihn, mir seine häuslichen Pflichten zu notieren. Heraus kam diese Aufzeichnung. Wie sie sehen, hatte der Junge nach Verlassen des Schulgebäudes praktisch keine freie Minute mehr. Man erwartete von ihm eine komplette Übernahme der Haushalts-und Betreuungspflichten. Das kann ein Junge in seinem Alter nicht leisten! Wir bestellten seine Eltern zum Gespräch, doch als Ergebnis kam dabei nur heraus, dass Mario aufgrund unserer ,Einmischung‘ von seinem Vater schwer verprügelt wurde. Eine Anzeige erfolgte nicht – der Junge wollte es nicht. Ich führte in der Folgezeit noch einige Tests mit ihm durch und kam zu erschreckenden Ergebnissen: Mario besitzt ein enormes Aggressionspotenzial, verfällt immer wieder in Depressionen, zeigt ausgeprägte autoaggressive Tendenzen und wirkt phasenweise suizidgefährdet. Er ist ein durchschnittlich intelligenter Junge, der deutlich bessere schulische Ergebnisse erzielen könnte, wenn er in einer liebevollen Atmosphäre aufwachsen würde. Vielleicht fragen Sie auch einmal beim Jugendamt nach, dort muss es ebenfalls eine Akte zur Familie Hilbrich geben. Nachbarn der Familie haben sich schon vor einigen Jahren dorthin gewandt.“
„Keine gefühlte Ausnutzung durch die Familie, sondern eine tatsächliche!“, fasste Klapproth kurz zusammen.
„Ja. Hinzu kommt noch, dass die Hilbrichs von ihmschulische Höchstleistungen erwarten, die er nicht erbringen kann, und sein Selbstwertgefühl untergraben. Herabsetzungen und Beschimpfungen sind für Mario an der Tagesordnung. Außerdem verschlechtert sich seine Situation auch noch dadurch, dass er sich in der Regel bemüht, niemand merken zu lassen, was in ihm vorgeht. Er hat kein Ventil“, ergänzte die Lehrerin.
„Julian Baier?“
Der Psychologe räusperte sich und zog einen weiteren Ordner aus dem Regal.
„Er war ebenfalls bei mir. Dem Sportlehrer fiel das seltsame Verhalten des Schülers auf. Wiederholt verschärfte er die vorgegebenen Turnübungen für sich so weit, dass gravierende Verletzungsgefahr bestand. Ihm ging es darum, sich zu beweisen. Der Test ergab ein unterminiertes Selbstbewusstsein, autoaggressive Tendenzen und eine ausgeprägt aggressive Persönlichkeitsstruktur. Seine Eltern verstehen Julians Freiheitsdrang überhaupt nicht. Die unterschiedlichen Sichtweisen innerhalb dieser Familie sind nicht miteinander in Deckung zu bringen, jede Kritik perlt an den Eltern ab. Es stimmt, dass Julian leicht retardiert ist, das kommt häufig bei Kindern vor, die eine schwere Krankheit überstanden haben. Aus Hilflosigkeit und Angst – in Julians Fall war es sogar Todesangst – erfolgt bei diesen Kindern während der Krankheit eine stärkere Anbindung an die Eltern, die den Fels in der Brandung symbolisieren. Umso schwieriger wird dann der Ablösungsprozess während der Pubertät. Julian kämpft heftig um jeden noch so kleinen Freiraum, trotzt und gebärdet sich wie ein wildes Tier. Auch er sucht nach einer Möglichkeit, seine aufgestauten Aggressionen sinnvoll abzubauen. Sport wäre eine
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