Steinhauer, Franziska
mir auch schon aufgefallen. Sie sind beide sehr verschlossen. Helene spricht kaum mit mir, im Grunde sprechen die beiden immer nur untereinander, Kontakt zu anderen suchen sie nicht.“
„Ja, das ist richtig. Mit mir sprechen sie auch nicht viel. Wenn ich sie etwas frage, antworten sie, aber sie erzählen nie etwas von sich aus. Ich habe mich längst daran gewöhnt. Die beiden haben sogar eine Zeichensprache entwickelt, die ich nicht verstehe. So können sie sich lautlos miteinander unterhalten. Sie sind eben Geheimniskrämer.“
„Bestimmt fehlt ihnen auch der Kontakt zu Gleichaltrigen. Den ganzen Tag nur mit einer alten Frau wie mir und einem kranken alten Mann zusammen zu sein, ist für die beiden sicher langweilig.“ Waltraud lächelte müde.
„Oh nein! Damit hat es nichts zu tun, glaub mir. Da musst du dir keine Gedanken machen!“
Sie prosteten einander zu, und Jakob hatte plötzlich unerwartet das Bedürfnis, dieses Gespräch mit Waltraud fortzusetzen und ihr seine Probleme anzuvertrauen.
„Als Heiko und Helene noch klein waren, da sind sie durchs Haus getobt und haben Unfug getrieben. Immerzu heckten die beiden Streiche aus, oder Maria brachte sie mit lustigen Geschichten zum Lachen. Heiko und Helene jagten sich über die Wiese hinter dem Haus, während Maria unter dem alten Apfelbaum saß, die beiden im Auge behielt und Socken stopfte. Es war eine wahre Idylle. Und irgendwie habe ich von Anfang an geahnt, dass sie keinen Bestand haben würde.“
„Was ist passiert?“
„Maria ist gestorben“, murmelte Jakob unendlich traurig. „Du meinst, die Kinder konnten den Verlust der Mutter nicht verkraften?“
„Ja, vielleicht meine ich das.“ Jakob trank einen großen Schluck Wein und starrte minutenlang ins prasselnde Feuer. „Ich weiß es nicht. Sie haben über jenen Tag noch nie gesprochen! Aber in den ersten Monaten nach Marias Tod ist Helene jede Nacht schreiend aufgewacht. Sie hat mir nie erzählt, was sie so erschreckt hat, aber es müssen entsetzliche Albträume gewesen sein. Weißt du, ich hätte mich viel mehr um die beiden kümmern müssen! Stattdessen war ich nur mit mir, meiner Trauer und den hirnlosen Gerüchten im Dorf beschäftigt.“
„Aber Jakob, es ist doch ganz normal, dass du selbst erst einige Zeit gebraucht hast, um über Marias Tod hinwegzukommen. Das musst du dir doch nicht zum Vorwurf machen.“
„Nein, nein, nein! Das ist es nicht!“, hielt Jakob unerwartet heftig dagegen. „Ich war ein erwachsener Mann, aber meine Kinder waren damals noch viel zu klein, um zu begreifen, was mit ihrer Mutter geschehen war.“
„Niemand macht dir einen Vorwurf, Jakob!“
„Doch, Heiko und Helene. Jeden Tag. Jedes Mal, wenn ich sie ansehe, weiß ich, dass ich ihnen gegenüber nicht richtig gehandelt habe! Damals haben sie wochenlang kein einziges Wort mehr mit mir gewechselt. Wenn ich Helene tröstend in den Arm nehmen wollte, fing sie an zu zittern – Heiko schlug sogar nach mir. Heute ist er ein unerhört aggressiver junger Mann, der nicht weiß, wohin er mit all seiner Wut soll. Er hat noch keine sozial akzeptierte Variante gefunden, um seinen Zorn sinnvoll zu kanalisieren. Du weißt schon, so etwas wie grenzenlosen Ehrgeiz zum Beispiel. Und Helene geht mir noch heute aus dem Weg, schließt sich in ihrem Schrank ein und weigert sich, die Türen zu öffnen.“
„Warum glaubst du, dass Heiko so wütend ist? Ist es das Gefühl, ungerecht behandelt worden zu sein?“
„Schwer zu sagen. Ich nehme an, er ist wütend darüber, dass seine Mutter ihn verlassen hat. Als Kind konnte er ja nicht begreifen, warum sie plötzlich nicht mehr da war. Mein Therapeut glaubt, Helene leide unter einer alles beherrschenden Angst, weil ihr die beschützende Mutter so früh entrissen wurde – und sie wenige Tage nach deren Verschwinden auch noch auf schrecklichste Art und Weise erfahren musste, was es bedeutet, ohne Schutz zu sein.“Waltraud beugte sich zu Jakob hinüber und tätschelte seine magere Hand.
„Das muss alles furchtbar für dich gewesen sein!“
Jakob straffte seine Schultern. Er wollte kein Mitleid. „Heiko läuft wie ein Werwolf durch die Straßen.“
„Das weiß ich schon“, entgegnete Waltraud zu seiner Überraschung völlig ruhig.
„Ach?“
„Aber ja. Hast du wirklich gedacht, der Junge könnte sich so lange beherrschen, wo er hier doch nicht die geringste Ablenkung hat? Nein, nein. Ich habe ihn überrascht, wie er versuchte, Pizza und Prosciutto zu einem
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