Steinhauer, Franziska
diese nicht glücklich darüber, eine satanistische Sekte in ihrem Dorf zu haben. Bestimmt wussten sie auch längst, dass sie an diesem Zustand nichts mehr ändern konnten. Er grinste hämisch.
Langsam stapfte er den steilen Weg zur Kirche hoch. Eigentlich war St. Helena eher ein Kirchlein. Weiß, mit einem hochgereckten, schlanken Turm, den ein spitzes rotes Dach zierte. Das letzte Bollwerk menschlicher Zivilisation und das letzte trotzige Aufbegehren der Christen. Unmittelbar dahinter begann das Ende der Welt. Finster reckten sich die Tannen meterhoch in den Himmel, bildeten eine schwarze Wand. Undurchdringlich und abweisend wirkte der Nadelwald, unfreundlich, gar lebensfeindlich.
Er drehte sich um und sah über den Friedhof ins Tal hinaus.
Malerisch, überlegte er, wäre ein passendes Adjektiv für den Anblick, der sich ihm in dieser Richtung bot. Alle Häuser und Wiesen waren vom ersten Schnee eingestäubt, die Schornsteine rauchten und vermittelten den Eindruck von warmer Behaglichkeit in den Stuben. Unter ihm wand sich die Straße durch das weite Tal. Es war die einzige Straße, die vom Eingang des Tales bei Lana durch weitere Dörfer, die den Namen von Heiligen trugen, nach St. Gertraudführte. Die Häuser des Dorfes, die überwiegend in traditioneller Bauweise aus Lärchenholz errichtet und mit Schindeln gedeckt worden waren, zogen sich auf beiden Seiten des Tales den Berg hinauf. Einige waren im Laufe der Jahre fast schwarz geworden, andere hatte man renoviert und schimmerten nun wieder honigfarben.
Baumeister betrat den kleinen Friedhof, der so angelegt war, dass man den Eindruck gewinnen konnte, er schwebe gleichsam über dem Tal. Bald schon würde die Sonne vollständig verschwunden sein, er musste sich beeilen.
Gräber im Ultental, stellte er fest, sahen ganz anders aus als Gräber in Köln.
Ordentliche Reihen mit großen, schwarz-metallenen Kreuzen oder Grabsteinen aus Granit, davor ein kleines eingezäuntes Viereck, das gerade einer Grabkerze und einem Gebinde Platz bot. Mausoleen fanden sich genauso wenig wie anderweitig kunstvoll gestaltete Gedenkstätten. Es war, als wären die Menschen hier im Tod tatsächlich gleich.
Nur zwei Gräber waren auffällig. Das eine war mit Blumen und Kerzen übersät. Selbst um die Einfassung herum waren noch kleine Grablichter gegen das Vergessen aufgestellt worden. „Maria Gumper“, las Baumeister und beschloss, Erkundigungen über die Tote einzuziehen. Mit dieser Frau musste es eine besondere Bewandtnis haben. Das zweite Grab, das ihm auffiel, war frisch angelegt. Ein Mädchen namens Rosa war dort bestattet worden. Es war im vergangenen Sommer, fast noch im Kindesalter, gestorben.
Faszinierend für ihn war, dass fast immer ein Bild der Verstorbenen am Kreuz oder am Grabstein befestigt war. Junge Frauen in prächtiger Feiertagstracht lächelten ihnebenso an wie weißhaarige, ältere Damen. Aufnahmen von Ehepaaren und Kindern gab es – und an einigen Kreuzen sah er Fotos, die offensichtlich erst nach dem Tod des Betroffenen entstanden waren. Echte Totenbilder. Daneben machte er die beunruhigende Entdeckung, dass die Menschen in diesem Tal oftmals relativ jung starben.
Eine alte Frau drängelte sich an ihm vorbei zur Wasserentnahmestelle und füllte eine Gießkanne. Sie würdigte ihn keines Blickes und sprach kein Wort. Baumeister zuckte gleichgültig mit den Schultern. Ihm war das verstockte, abweisende Verhalten der Dörfler schon auf dem Weg durch den Ort aufgefallen. Satanisten hin oder her – niemand konnte schließlich wissen, ob er zu ihnen gehörte, er könnte ebenso gut ein ganz normaler Tourist sein. Kevin Baumeister hatte daher eher das Gefühl, als wäre den Ultentalern prinzipiell jeder Fremde ein Dorn im Auge.
Den Kindern Lucifers gegenüber würde sich dieses Verhalten entweder bald legen oder eben nicht. Ihnen war es gleichgültig, sie wollten ohnehin keine engen Kontakte zu den Menschen hier. Das barg ein viel zu hohes Risiko für ihre Unternehmungen. Nein, dachte er, sie würden sehr zurückhaltend, eher kontaktscheu auftreten – und den Ort finanziell immer wieder mal unterstützen, um sich auf diese Weise unentbehrlich zu machen.
Das Haus gegenüber der Kirche, das Widum, machte einen unbewohnten Eindruck. An der oberen rechten Ecke des Grundstücks hatte jemand ein riesiges Kreuz errichtet. Kevin Baumeister betrachtete es nachdenklich. Vielleicht war es eine Art Wallfahrtskreuz, das einer Prozession vorangetragen wurde. Eigentlich
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