Steirerherz
schon sehr früh verlassen hatte, war Sandra keine Wahl geblieben. Mit vier
Jahren hatte sie alleine bei der schwierigen Mutter zurückbleiben müssen, hätte
sich mit ihr arrangieren sollen. Was vielleicht sogar geklappt hätte, wäre nicht
zwei Jahre später ihr Halbbruder zur Welt gekommen, der Sandra das Leben seither
zur Hölle machte. Von Anfang an hatte er die volle Aufmerksamkeit der Mutter auf
sich gezogen, sodass für Sandra kein Fünkchen Zuwendung mehr übrig geblieben war
– obwohl Mike schon sehr früh durch Faulheit und aggressives Verhalten aufgefallen
war und sich schlussendlich zu einem Kriminellen entwickelt hatte. Die Mutter verzieh
dem Sohn einfach alles – was auch immer dieser anstellte. Auch, dass er Sandra im
Vorjahr halb tot geprügelt hatte. Die physischen Verletzungen waren rasch verheilt,
um ihre Panikattacken in den Griff zu bekommen, hatte Sandra allerdings einige Monate
Therapie gebraucht. In Tiefgaragen und Aufzügen überkam sie noch immer ein mulmiges
Gefühl, das sie inzwischen ohne die ihr verhassten Medikamente zu beherrschen gelernt
hatte.
»Und so sagen wir Lebewohl, Valentina.
In unseren Herzen lebst du fort bis in alle Ewigkeit«, hörte Sandra die Worte des
Pfarrers, bevor sie diese wieder ausblendete. Miriam, die anstelle von Bergmann
mitgekommen war, betrachtete die Sprüche und Namen auf den Trauerkränzen. Das Blumenmeer,
das den Erdhügel neben Valentinas Eichensarg bedeckte, und die beachtliche Anzahl
der anwesenden Trauergäste bestätigten Sandra, dass die Verstorbene über die Grenzen
ihrer Heimatgemeinde hinweg beliebt gewesen war. Ein paar Schaulustige hatten sich
wohl ebenfalls hier eingefunden. Ob Valentinas Mörder auch unter den Trauergästen
war? Sandras Blick wanderte von einem zum anderen. Ihr fiel auf, dass nicht nur
die Familie des Opfers, sondern auch die meisten ehemaligen Schulkollegen und Lehrer
weinten oder zumindest um Fassung rangen. Auch den Anwesenden aus Graz stand der
Schmerz ins Gesicht geschrieben – allen voran Egon Hausner, der mit seinem Vater,
jedoch ohne Carolina Holzinger auf dem Friedhof erschienen war. Deren Abwesenheit
erstaunte Sandra nicht weiter, doch dass Pia Fürnpass das Begräbnis ihrer besten
Freundin versäumte, beschäftigte sie zunehmend. Noch einmal ließ sie den Blick über
die Trauergemeinde schweifen, was ihr nur erneut bestätigte, dass Valentinas Freundin
fehlte. Unauffällig wandte sich Sandra um. Vielleicht war Pia ja zu spät gekommen
und hielt sich nun im Hintergrund auf, um die Zeremonie nicht zu stören. Doch halt!
Was war das eben für ein Schatten gewesen? War da jemand hinter den Bäumen verschwunden?
Oder hatte die vorüberziehende Wolke die Tannen einen Moment lang etwas dunkler
erscheinen lassen? Sandra wollte hinübergehen und nachsehen, als lautes Wehklagen
ihre Aufmerksamkeit auf sich zog. Sie wandte sich wieder dem Begräbnis zu. Valentinas
Sarg senkte sich langsam, um für immer in der Erde zu verschwinden. Linde Trimmel
war auf die Knie gefallen und schrie mehrmals verzweifelt den Namen ihrer Tochter
heraus, bis Florian sich auf sie warf und die Schreie der Mutter erstickte. Franz
junior packte den Kleinen an der Jacke seines Steireranzugs und hob ihn hoch, um
ihn tröstend in die Arme zu nehmen. Nun beugte sich der alte Franz Trimmel zu seiner
Frau hinunter, die noch immer von heftigem Schluchzen gebeutelt wurde, und sprach
besänftigend auf sie ein. Sandra flüsterte Miriam zu, dass sie sich kurz entfernen
wolle. Dann machte sie sich auf den Weg.
Hinter der Baumgruppe am Rande des
Friedhofs war niemand zu entdecken. Ein Geräusch über ihrem Kopf ließ Sandra plötzlich
aufblicken. Der Mann schien sie noch nicht bemerkt zu haben. Er stand etwa zwei
Meter über ihr in der Tanne und drückte immer wieder auf den Auslöser seiner Kamera.
»Pssst«, zischte Sandra zu ihm hinauf, um nicht gleich die ganze Trauergemeinde
auf sich aufmerksam zu machen. Und auf den Fotografen, der das Begräbnis von dort
oben aus dokumentierte. Erschrocken sah er sie an, während sie ihm ihren Dienstausweis
entgegenstreckte. »Polizei. Kommen Sie sofort herunter«, sagte sie leise und winkte
ihn mit dem Zeigefinger zu sich. Während der Mann geschickt die Tanne hinabkletterte,
warfen die Trauergäste nach und nach eine Schaufel Erde und eine rote oder weiße
Rose auf den Sarg in der Grube.
»Haben Sie eine Genehmigung, hier
zu fotografieren?«, fragte Sandra der Ordnung halber und verlangte nach einem Ausweis.
Statt
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