Sten 8 Tod eines Unsterblichen
Wie lang ist unser Seil ?"
"Fünfundsiebzig Meter."
"Verdammt", fluchte Sten. "Ich weiß nicht, ob ich noch mal den kletternden Puristen spielen werde.
Jetzt wären jedenfalls ein paar Dosen Klettergarn, Jumars und Hakenpistolen genau das richtige. Oder eine Treppe. Aber oookay - wir ziehen das jetzt so durch."
Er machte sich vom Seil los, stellte seine Ausrüstung an eine Stelle, von der aus sie hoffentlich nicht sofort talabwärts rutschen würde, hängte das Seil wieder ein, atmete tief durch und fing an zu klettern.
Am Eis des Wasserfalls hinauf.
"Gefällt mir überhaupt nicht", murmelte er. Und so war es auch. Sten wußte nur aus einem Livie, daß man überhaupt an Eis hinaufklettern konnte.
Außerdem hatte er einmal ein gemeinsames Wochenende mit einem seiner Ausbilder bei Mantis verbracht - und dieser war geradezu versessen darauf gewesen, Wasserfälle hinaufzuklettern, sobald die Temperatur unter zehn Grad minus fiel.
Er selbst war dabei zweimal fast abgestürzt und mußte zum Schluß hinaufgezogen werden. Nein.
Falsch. Keiner der vier Beteiligten hatte es an diesem langen Wochenende voller Schrammen bis nach oben geschafft.
>Befolge Cinds Rat. Halt die Klappe.
Es ist gar nicht so schlimm<, dachte er. >Nicht schlimmer als, hm, sich mit den Fingerspitzen irgendwo festzuklammern und alle zwei Minuten einen Klimmzug zu machen.<
Jedenfalls war das Eis gut und fest gefroren. Es gab keinen Grund, sich über Frühlingstauwetter Gedanken zu machen.
Und ab und zu gab es eine gute Stelle, an der man sich kurzzeitig fast bequem hinstellen konnte. Wie gerade eben.
"Wie nennt man das eigentlich?" wollte Cind fünf Meter tiefer wissen.
"Selbstmord", keuchte Sten. "Mit dem Gesicht zur Wand."
Sein guter Standplatz bestand aus den
Metallspikes seiner Steigeisen - an den Stiefeln angebrachte Metallplatten, die ringsherum mit zwei Zentimeter langen senkrechten, spitzen Nägeln sowie ebensolchen horizontalen vorne am Fuß ausgestattet waren.
Ein Fuß kam plötzlich knirschend aus dem Eis heraus, und Sten hing schon wieder nur an seinen Händen. Er wand sich eine Weile immer
hoffnungsloser vor und zurück, noch ein Klimmzug, tastete dann nach einem Halt für seine Hand, fand ihn, stieß mit seinem rechten Fuß hinein. Wieder ein halber Meter-geschafft.
Zweimal durchatmen und noch mal versuchen.
Und noch mal. Und noch mal.
Plötzlich war kein Eis mehr unter seiner tastenden Hand. Die Hand bewegte sich zur Seite.
Überhängender Fels. Fels? Kein Wasserfall mehr?
Kein Wasserfall mehr.
Sten zog sich auf eine herrlich gerade Fläche hoch und gönnte sich eine kurze Verschnaufpause.
Dann machte er das Seil los und rief zu Cind hinab.
Zuerst zog er die Ausrüstung am Seil Hand über Hand nach oben. Noch mehr Gekeuche. >Man wird nicht nur alt, sondern auch alt und schwach<, dachte Sten.
Jetzt zu Cind. Er wartete -
trotz ihres
ungeduldigen Rufs -, bis er seinen Atem wieder vollständig unter Kontrolle hatte. Die Ausrüstung zu verlieren, wäre ja nicht so schlimm gewesen, aber...
Cind klinkte das Seil ein.
"Ich habe das noch nie gemacht", schrie sie.
"Das sagen alle Mädchen."
Cind begann zu klettern. >Ein Naturtalents dachte Sten, nicht ohne einen gewissen Neid. >Sie ist ein Naturtalente Sie kletterte den Wasserfall hoch, als sei sie ein Lachs, der zum Laichen den Fluß hinaufschnellt. Als sie oben ankam, ging ihr Atem noch nicht einmal besonders schwer.
"Ich hätte nicht gedacht, daß du sogar das schaffst."
"Das sagen auch alle Mädchen."
Sten schulterte seine Ausrüstung und half Cind, ihre wieder aufzunehmen. Sie befanden sich in der Nähe eines gefrorenen Teiches, durch dessen Eisoberfläche Felsspitzen hindurchstachen. Sten bemerkte, daß das Eis dünner wurde, je weiter sie gingen.
Dicht vor ihnen, nicht weiter als fünfzig Fuß geradeaus, schob sich ihnen langsam eine dicke Wolke entgegen. >Sehr schön. Jetzt dürfen wir auch noch im Nebel weiterklettern.<
Sten irrte sich: Der Rest der Kletterpartie - ein müheloser Spaziergang auf ebener Erde - dauerte nur noch vier Minuten.
Durch den Nebel hindurch betraten sie ein Winterparadies. Sie befanden sich in einem kleinen Tal. Gebüsch. Gras. Gebirgsflora.
"Ich glaube, ich sehe nicht richtig", staunte Sten.
Auf der einen Seite des Tales blubberte eine heiße Quelle, deren Wasser die kleine Wiese
überschwemmte und sich dann mit dem größeren Fluß vermischte, noch warm genug, um das Eis zu schmelzen. Überall hatten sich kleine Teiche
Weitere Kostenlose Bücher