Stephane Hessel - ein gluecklicher Rebell
Stéphane war zuständig für die Organisation des ersten Schuljahres des unabhängig gewordenen Staates, die »rentrée«, wie man dies in Frankreich nennt. Die Hoffnung war, ein vollständig zweisprachiges Schulsystem zu schaffen, aber das misslang auf die Dauer, das Französische wurde in dem Maße zurückgedrängt, in dem sich das Regime radikalisierte – in Stéphanes Augen eine vertane Chance. In den 1970er Jahren setzte dann eine forcierte Arabisierung ein.
Die Jahre in Algier waren im Leben der Familie Hessel ganz besondere Jahre, mit schönen Erfahrungen und einigen dramatischen Momenten. Zunächst wohnte die Familie in der Villa Clara, einem Haus mit prachtvollen Mimosen im Garten. Eines Morgens fanden sie ihren algerischen Hausmeister erschlagen in seinem Zimmer. War es ein Racheakt? Ein Einbruch? Es wurde nie geklärt. Algerien war ein Land voller Schönheiten und Schätze, in dem jedoch unmotivierte Gewalt jederzeit auszubrechen drohte.
Antoine Hessel, das zweite Kind von Vitia und Stéphane, heiratete die Tochter des Botschaftsrates Philippe Rebeyrol. Aber dann geschah ein Drama: Antoine wurde bei einem Autounfall schwer verletzt, schwebte in Lebensgefahr. Sein jüngerer Bruder Michel, der mit im Auto saß, kam glimpflich davon und kümmerte sich um ihn. Antoine kam insKrankenhaus, wurde dort von einem algerischen Krankenpfleger hingebungsvoll betreut. Vitia Hessel freundete sich mit dem Pfleger an und machte ihn später in ihrem zweiten Roman zu einer sympathischen Figur (
La désaccoutumance
– Die Entwöhnung).
Rahmen der Romanhandlung war die Residenz in Sidi Alaoui, welche die Hessels 1965 bezogen, als Stéphane Botschaftsrat und somit Nachfolger von Rebeyrol wurde. Das wunderschöne Gebäude stand in einem traumhaften orientalischen Garten. Politisch waren die Verhältnisse nicht so idyllisch, es waren konfuse Jahre. Zu viele Mächte versuchten von außen, die Entwicklung des Landes zu beeinflussen. Der Versuch, eine demokratische Gesellschaftsform zu ermöglichen, das Land sich frei entfalten zu lassen, aber auch die französische Präsenz zu erhalten, erwies sich als unerfüllbare Mission. Es gab viele Verstaatlichungen, die Sicherheitsorgane wurden zur eigentlichen Macht. Das autoritär regierte Land ist bis in unsere Tage von tiefer Gewalt gespalten – und bleibt doch ein unersetzlicher Partner der Politik im Mittelmeerraum, so denkt Stéphane Hessel auch heute noch. Um dieser Hoffnung Ausdruck zu geben, gehörte er viele Jahre der Vereinigung Frankreich – Algerien an, 1986 wurde er sogar für einige Jahre deren Vorsitzender, als Nachfolger der Mitbegründerin Germaine Tillion, der bekannten Ethnologin und Überlebenden des Konzentrationslagers Ravensbrück.
Auch in anderen politischen »Clubs«, wie sie in Frankreich seit 1789 Tradition haben, war Stéphane Hessel aktiv. Es sind parteinahe, aber unabhängige Reflexionsgremien, die der Politik Impulse geben wollen. Stéphane gehörte dem Club Jean Moulin an, den er 1958 mit seinem Freund Cordier gegründet hatte und der bis 1970 bestand. In diesem Rahmen lernte er seinen engen Freund, den Philosophen und Ökonomen André Gorz, und dessen Frau Doreen kennen; später war Stéphane Mitglied im InstitutPierre Mendès-France, dessen Vorsitz er innehatte, bis ein anderer »Freund«, Claude Cheysson, ihn aus diesem Amt drängte. Nun wandte sich Stéphane dem Club Convaincre zu (»Überzeugen«), der dem Reformsozialisten Michel Rocard nahestand, dessen Vater Hessel im Krieg kennengelernt hatte und der lange Zeit Stéphane Hessels politische Hoffnung verkörperte. Rocard galt als der wahre Erbe von Mendès-France; immerhin brachte er es zum (ungeliebten) Ministerpräsidenten von François Mitterrand.
Überblickt man seine politischen Vorlieben, so muss man sagen, dass Stéphane Hessel nie auf der Seite der wirklich Mächtigen war. Bei de Gaulle war er, als dieser recht isoliert für Frankreichs Ehre kämpfte, aber nicht mehr, als dieser an der Spitze des Staates stand; er arbeitete für den mutigen, aufrichtigen, angefeindeten und letztlich tragisch gescheiterten Mendès-France; er unterstützte den hochintelligenten, aber nicht sehr machtbewussten Michel Rocard; später hatte er Sympathien für die Grünen, aber eher für den unterlegenen Kandidaten Nicolas Hulot, 2011 war er für Martine Aubry als Kandidatin der Sozialistischen Partei, die sich jedoch nicht durchsetzte. Stéphane Hessel stand also immer auf der Seite der sympathischen
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