Sterbelaeuten
schlug hinter dem letzten Patienten für heute zu. Bettina Struck sah auf die Uhr. Acht. Sie würde noch eine Weile hier sitzen müssen. In den hinteren Räumen wurde ein Wasserhahn an- und ausgemacht. Wenig später ertönten Schritte und Ina, eine der Physiotherapeutinnen, kam nach vorne.
„Das war’s für heute, Gott sei Dank!“ Ina ließ sich auf einen Stuhl fallen, zog die weißen Schlappen aus und machte sich daran, Straßenschuhe anzuziehen. „Und was ist mit dir?“, fragte sie ihre Chefin.
„Ich muss noch die Abrechnung machen“, sagte Bettina.
„Jetzt noch? Wie lange willst du hier denn noch sitzen?“
„Tagsüber komme ich nicht dazu. Und am Wochenende will ich es auch nicht machen, Jens und ich wollen was unternehmen. Ist nicht so schlimm.“ So war das eben, wenn einem der Laden gehörte.
Bettina sah Ina nach. Jetzt waren alle weg. Sie wandte sich wieder den Zetteln und Karten auf ihrem Tisch zu. Ich sollte noch mal einen Rundgang machen, gucken, ob alle Lichter aus, die Fenster verschlossen sind. Ein bisschen später, wenn ich eine Pause brauche, dachte sie. Die Schreibtischlampe bildete eine Insel aus Licht in der dunklen Praxis und Bettinas weißes Haar leuchtete silbern in ihrem Schein. Bettina arbeitete sich durch Rezepte und Behandlungsprotokolle. Sie legte ab und zu eine Spätschicht in der Praxis ein. Sie hatte schon in der Schule öfters nachts ihre Aufsätze geschrieben, die Kunstbilder gemalt oder fürs Abitur gelernt. Jens war jeden Morgen ab acht in der Praxis und abends zu müde, um noch Bürokram zu erledigen. Er ging dann lieber heim und sah fern. Diese Arbeitsteilung hatte sich zwischen ihnen gut eingespielt.
Bettina freute sich aufs Wochenende. Jens und sie hatten eine Wandertour im Taunus geplant. Dort lag schon etwas Schnee. Mittags würden sie am Herzberg einkehren. Bettina tippte Zahlenreihen in die Abrechnungsmaske auf dem PC. Sie spürte, wie sie die Augen zusammenkniff, um besser zu sehen. Ihre Schultern waren verspannt. Ein Blick auf die Uhr sagte, dass sie schon zwei Stunden gearbeitet hatte.
Ein schabendes Geräusch ließ sie aufhorchen. Es knirschte, wie wenn Metall auf Metall rieb. Bettina lauschte in die Dunkelheit hinein. Jetzt war nichts mehr zu hören. Sie schauderte und sah, dass sie eine Gänsehaut auf den Unterarmen bekommen hatte. Die tagsüber gutbesuchte Praxis hatte nachts eine ganz andere Atmosphäre. Die einladenden, hellen Räume in freundlichen Farben lagen hinter ihr im Gang wie dunkle Löcher.
Bettina überlegte, ob sie das Radio anmachen sollte. Von Musik bekam sie meistens gute Laune. Sie streckte die Hand nach dem Radio aus, ließ sie dann aber wieder sinken. Irgendetwas hielt sie ab. Sie lauschte wieder. Jetzt klang es, als ob der Kies auf den Wegen um das Haus unter Schritten knirschte. Schlich jemand ums Haus? Ach, wozu denn, dachte Bettina. In einer Krankengymnastikpraxis gab es wirklich nichts zu holen, was irgendeinen Wert für normale Leute hatte. Gut, ein bisschen Geld von den Rezeptgebühren und Gutscheinverkäufen. Aber dafür lohnte sich doch kein Einbruch.
Bettina nahm sich einen neuen Patienten vor, aber sie konnte sich nicht mehr konzentrieren. Schließlich räumte sie die restlichen Zettel zusammen und stand auf. Den Rundgang hatte sie ganz vergessen. Sie spürte ihr Herz in der Brust pochen und befahl sich, nicht albern zu sein. Sie würde zuerst in den Keller gehen, dann hatte sie den schon mal hinter sich.
Im Keller war alles ordentlich aufgeräumt, die Sitzbälle in den Gestellen an der Wand, die Therabänder an ihren Haken, die Gymnastikmatten in der Ecke gestapelt. Bettina machte das Licht wieder aus und stieg die Treppe hoch, dem Schein ihrer Schreibtischlampe entgegen. Sie bog in den Flur und sah auf dem Weg in die Behandlungsräume.
Als sie den Geräteraum betreten wollte, klirrte ein Fenster. Bettina stieß einen Schrei aus. An der Tür zum Hof bewegte sich jemand. „Hilfe!“ wollte Bettina schreien, tatsächlich krächzte sie es nur leise. Mit zitternder Hand tastete sie nach dem Lichtschalter und das Neonlicht ging an. Sie hörte laute Schritte auf dem Kies davonrennen. Die Fensterscheibe neben der Glastür war zerbrochen. Bettina rannte den Gang zurück, schnappte ihre Handtasche von der Rezeption und rannte nach draußen. Sie wollte ihr Handy aus der Tasche holen und die Polizei anrufen, aber die Beine sackten unter ihr weg und sie glitt langsam auf den kalten Bürgersteig.
Dritter Advent
Am Morgen des
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