Sterbelaeuten
Diele fehlte. Ein einsamer Balken stach dort etwas unvermittelt hervor. Die Wände waren aus gemauerten Steinen. Gegenüber der Treppe befand sich eine kleine Tür, die mit einem S-förmigen schmiedeeisernen Haken verschlossen war.
„Was ist dahinter?“, fragte Markus.
„Ihre Heiligkeiten, die Schleiereulen“, antwortete Samuel und löste den Haken.
Die Tür fiel nach außen und die Jungen streckten ihre Köpfe in die Öffnung. Sie sahen in einen niedrigen Raum mit dicken Dachbalken. Schleiereulen waren in der Dunkelheit nicht auszumachen.
„Los, wir gehen hoch zu den Glocken!“, forderte Markus.
Samuel verschloss die Tür wieder sorgfältig mit dem Haken, und die drei erklommen die zweite Treppe, eher ein Zwischending zwischen Treppe und Leiter. Diese Treppe führte in einen Raum, der aussah wie der vorige, nur niedriger. Auch er hatte eine schmale Fensteröffnung, von der aus man den Friedhof sehen konnte. Von diesem Raum führte nur noch eine Leiter zur nächsten Dachluke.
Markus erklomm sie als Erster und blickte nach oben. Von hier aus sah man die drei Glocken, zwei große unten, eine kleinere darüber. Die Glocken waren mächtig und, allein aufgrund ihrer Größe, irgendwie unheimlich. Wenn sie läuteten, würde es hier ungemütlich werden. „Hier geht es nicht weiter“, sagte er, nachdem er sich an ihren Anblick gewöhnt hatte. „Man müsste an den Stangen vorbeiklettern. Wow, dann könnte man allerdings super klettern, hier gibt es ein tolles Gebälk.“
„Lass mich auch mal sehen“, sagte Lukas und Markus kletterte runter. Seine Hose blieb an einem Splitter hängen, der aus dem grob gezimmerten Geländer ragte. Er löste den Stoff der Hosentasche von dem Splitter und kletterte weiter nach unten.
Heute brachen anscheinend noch mehr Menschen mit ihren Gewohnheiten, dachte Elisabeth. Torat beehrte den Kirchenkaffee mit seiner Anwesenheit. Er stand in seinem sagenhaften Jackett an einem Bistrotisch und redete gestikulierend auf Stephanie ein. Er fasste ihren Ellbogen an. Sie lachte.
„Wenn da mal nichts im Busch ist“, dachte Elisabeth.
In diesem Moment betrat ein Mann den Raum, den Elisabeth beim zweiten Hinsehen als den Helfer beim Weihnachtsmarkt erkannte. Jakob irgendwas. Er wirkte wie ein Fremdkörper in seinem schwarzen Lederkurzmantel, darunter ein grauer Rollkragenpullover, helle Jeans. Was war es, das diesen Mann hier so unpassend erscheinen ließ?, überlegte Elisabeth.
Der Mann sah sich um. Als spürte er Elisabeths Blick, sah er zu ihr hin und ihre Blicke trafen sich. Er hatte sehr helle blaue Augen. Es war, als bliebe die Zeit einen Moment lang stehen, und erst als dieser vorüber war, löste der Mann den Blick von ihr, sah in die Runde und entdeckte Torat.
Torat zuckte zusammen, als der Mann ihm die Hand auf die Schulter legte und ihn ansprach. Der Mann lächelte und begrüßte Torat wie einen alten Freund. Thomas hatte ja erzählt, dass die beiden sich kannten, erinnerte sich Elisabeth. Trotzdem schien Torat überrascht, diesen Jakob hier zu sehen. Hatte der Torat denn nicht erzählt, dass er in seiner Kirchengemeinde als Helfer mitarbeitete? Torat sah völlig verdutzt, wenn nicht sogar verstört aus. Die Männer wechselten einige Worte. Torat sagte etwas zu Stephanie und drückte ihre Hand, die auf dem Tisch lag. Dann gingen die beiden Männer nach draußen. Stephanie sah ihnen verwirrt nach. Elisabeth fand, dass Torats Jackett auf einmal nicht mehr ganz so optimal saß.
Samuel sah auf seine Armbanduhr. „Es ist halb zwölf! Wir müssen gehen.“
Lukas löste sich mit sichtlicher Mühe vom Anblick der Glocken und alle stiegen die steilen Leitern und Stufen hinab. Sie öffneten die Tür hinter der Orgel, drängten sich in den Zwischenraum zwischen Wand und Orgel und erstarrten. Von unten hörten sie Schritte.
„Was willst du hier?“, hörten sie Torat sagen.
Die Jungen sahen sich erschrocken an. Was, wenn er hochkam? Am Ende wollte er noch mal üben. Das konnte Stunden dauern, in denen sie in dieser Nische festsitzen würden!
„Na, hör mal, Joe“, sagte eine fremde Stimme. „Da ziehe ich in die Gegend, wo ein alter Freund von mir wohnt. Mein Freund ist ein Kantor in einer schnuckeligen, kleinen Kirchengemeinde, ein höchst ehrenhaftes Amt. Also denke ich, dort finde ich Anschluss. Ich schließe Bekanntschaften, lebe mich ein. Was ist daran so schlimm?“
„Was willst du in einer Kirchengemeinde?“, fragte Torat. „Du bist noch nie in einer Gemeinde
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