Sterbelaeuten
Samuel alles richtig machte und nicht aus Versehen das 10 Minuten lange und laute 6.00 Uhr-Läuten anstellte oder die Totenglocke läutete.
Beim Hinausgehen nach dem Orgelnachspiel (einer Fuge in d-Moll von Johann Sebastian Bach) verlor Elisabeth die Zwillinge aus den Augen. Das war nicht weiter ungewöhnlich. Es gab immer Bekannte, die sie begrüßte und mit denen sie einige Worte wechselte, während sich die Gottesdienstgemeinde durch den Mittelgang nach draußen schob.
Markus und Lukas blieben zurück und warteten auf den Moment, in dem sie unbemerkt auf die Empore steigen konnten. Schließlich waren wohl die wenigen Besucher, die oben gesessen hatten, herabgestiegen, aber die Kirchenvorsteher, die draußen die Kollekte einsammelten, noch nicht wieder hereingekommen. Das war der Moment. Samuel, der seinem Vater angeboten hatte, an dessen Stelle die Gesangbücher einzusammeln, nickte den Zwillingen zu. Die versicherten sich mit einem Blick zur Orgel, dass Torat nicht gerade zu ihnen hinsah, liefen herbei und die drei Jungen stiegen die vom Haupteingang aus gesehen rechte Treppe zur ersten Empore hinauf. Dort würde Torat sie nicht sehen, wenn er gleich die Orgel verließ. Sie hielten sich dicht am Boden und versteckten sich hinter der hintersten Bank auf der Empore.
Torat schlug nachdenklich sein Notenheft zu. Diese Weihnachtslieder schlugen ihm auf den Magen. Sie riefen Erinnerungen an das Weihnachten seiner Kindheit in ihm wach. Sein Vater war Pfarrer in einer Stadtgemeinde in Köln gewesen. Nach den Weihnachtsgottesdiensten „feierte“ die Familie, die neben dem Vater nur aus seiner Mutter und ihm selbst bestand, in einer Suppenküche mit den Obdachlosen und Einsamen der Gemeinde. Dazu passte natürlich keine Bescherung. Torat bekam seine spärlichen Geschenke ohne weitere Zeremonie am ersten Feiertag in der Pfarrwohnung, die der Familie in einer Arbeitersiedlung zugewiesen war. Sein Vater war der Überzeugung, dass dies so richtig war, eine Überzeugung, die weder er noch seine Mutter hinterfragten.
Der Vater war überhaupt gegen das „Romantisieren“ des Weihnachtsfestes gewesen. Auf Bethlehems Stall habe schließlich kein dekorativer Schnee gelegen und einen Weihnachtsbaum habe die heilige Familie auch nicht gehabt. Für den kleinen Johannes war das Weihnachtsfest eine karge und freudlose Angelegenheit. Er hasste den Gestank der Obdachlosen und noch mehr hasste er es, wenn sie ihn ansprachen und er sich mit ihnen unterhalten sollte. Er sehnte sich nach einer schön geschmückten Wohnung, nach einer Mutter, die Plätzchen buk, und nach einem Vater, der in den Wald fuhr, um einen Weihnachtsbaum zu schlagen. Nun, so war es nicht gewesen und jetzt war es auch egal. Der Vater war schon lange tot. Ob er seinen himmlischen Lohn bekommen hatte?, überlegte Torat. Den Gedanken an seine Mutter, und wie diese wohl das Weihnachtsfest begehen würde, schob er von sich. Sicher gab es irgendwo eine schöne Suppenküche.
Torat schien an der Orgel festgewachsen zu sein. Minutenlang hatte er nun dagesessen und vor sich hingestarrt. Die Jungen hatten schon mehrmals nach vorne zur Orgel gespäht. Jetzt duckten sie sich schnell, denn Torat fing an, seine Noten zusammenzusammeln. Er drehte sich um, ging die Empore entlang zur Treppe und stieg hinunter. Die Tür schlug zu. Jetzt hieß es nur noch warten, bis die Kirchenvorsteher in der Apsis die Kollekte gezählt hatten. Danach würde der Weg frei sein, und sie hätten etwa eine halbe Stunde, bevor Thomas vom Kirchenkaffee zurückkehren und die Kirche abschließen würde.
Der Zugang zum Glockenturm befand sich hinter der Orgel. Links neben der Orgel gab es einen etwa 50 cm breiten Zwischenraum zwischen Wand und Orgel. In diesen quetschten sich die Jungen, geführt von Samuel, der den Weg kannte und nun die unscheinbare, schmale Tür in der Wand hinter der Orgel öffnete. Sie schauten in einen dunklen, hohen, schmalen Raum, in dem auf den ersten Blick nur eine grobe Holztreppe zu erkennen war und eine schmale Fensteröffnung oberhalb der Treppe. Es war kalt und roch nach feuchten Steinen. Samuel griff an Lukas vorbei und drehte einen Lichtschalter an der linken Wand an. Jetzt sahen sie, dass unter der Treppe ein Raum mit groben Steinen war, in den man aber nur über die Geländer der Treppe kletternd gelangen konnte.
Sie stiegen die Treppe hinauf und kamen in einen zweiten Raum. Der Raum hatte grobe Holzdielen als Boden und als Decke. In der Decke war ein Loch, wo eine
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