Sterbelaeuten
Kirchenvorstand“ geschrieben stand.
Sie hatten die kurze Pause zwischen dem ersten und dem zweiten Konfirmationsgottesdienst ausgenutzt, in der Thomas keine Gelegenheit hatte, die Handtücher zu sehen, bevor die Gemeinde in die Kirche kam. Die Kirchenvorsteher waren also würdig hinter Pfarrer Henry hergeschritten, um vorne angekommen auf ihrer Bank die Handtücher vorzufinden. Die Nachricht war deutlich: Wieso mussten sie die besten Plätze für sich beanspruchen?
Es war keine sehr populäre Meinung, die sie da vertreten hatten. Elisabeth konnte heute noch ausrasten, wenn sie im Schrank nur noch eins von diesen Handtüchern vorfand und sich damit auch noch abtrocknen musste.
„Mein Vater hat gesagt, jetzt gibt es die totale Null-Toleranz. Ich darf mir gar keinen Scheiß mehr erlauben, hat er gesagt, sonst kann ich das Laserschwert an Weihnachten vergessen und nie mehr fernsehen und muss für immer alle Wäsche machen, den Tisch abräumen, im gebrauchten Badewasser von Miriam baden ...“, Samuel merkte, dass er sich hatte fortreißen lassen, und beendete seine Ansprache mit „bla, bla, bla – ihr wisst schon.“ Markus und Lukas nickten. So ähnlich hatte Elisabeth sich damals auch ausgedrückt.
„Außerdem, was könnten wir schon erzählen? Dass da ein Typ ist, wir wissen aber nicht, wer er ist, der hat ein Kästchen mit Torats Fingerabdrücken. Was soll die Polizei denn damit anfangen? Und wem würden die wohl mehr glauben, uns oder Torat, dem Herrn Dekanatskirchencaruso?“
Markus und Lukas wussten dieser Logik nichts entgegenzusetzen.
„Meint ihr, Torat hat gemerkt, dass wir in der Kirche waren?“, fragte Lukas nach einer Weile.
„Schwer zu sagen“, überlegte Markus. „Wir hätten ja auch vom Spielplatz kommen können.“ Neben der Kirche hatte der evangelische Kindergarten seinen Spielplatz. „Jedenfalls wird er uns wohl auch nicht verpetzen“, stellte Markus fest und dabei beließen sie es, denn Elisabeth rief von unten zum Essen.
–
Enver war sein Aufpasser. Das hatte Maté schnell gemerkt. Er passte auf, dass Maté hier in dieser Plattenbauwohnung blieb und seinen Telefondienst machte. Maté ließ seinen Blick über die Hütten schweifen, auf deren dünnen Dächern Schnee lag. Enver passte auf, dass Maté nicht die Nerven verlor und „Scheiß baute“, wie Enver sagte und dann grinste er, durchaus freundlich. Dass Maté nicht am Ende abhaute, aber wohin denn? Er war jetzt seit mehr als zwei Jahren hier und sprach immer noch kein Wort Serbisch. Er hatte keine Papiere. Und draußen vor dem Fenster lag die einzige Alternative, die ihm zu dieser Wohnung mit dem Telefonjob blieb, der Hüttendorf-Slum. Bei der Vorstellung, wie kalt es jetzt im Winter in diesen Hütten sein musste, schauderte Maté selbst in seiner warmen Wohnung mit einer Tasse Kaffee in der Hand.
„Wovon leben diese Leute?“, hatte er Enver gefragt.
„Von Müll.“ Enver sah kaum vom PC auf. „Sie sammeln Müll und verkaufen den an Schrotthändler.“
„Und davon können alle leben?“
„Manche gehen putzen. Die Frauen. Oder auf den Strich. Keine Ahnung.“
Auf die Frage, wann er seine Geburtsurkunde wiederhaben könnte, hatte Joska die Augen zusammengekniffen und geantwortet: „Wenn du die Ausbildungskosten und deinen Unterhalt hier zurückverdient hast und einen ordentlichen Gewinn gemacht hast. Wir haben viel für dich getan.“ Eine Handbewegung erfasste sowohl die Wohnung als auch das, was vor deren Fenster lag. „Aber wir sind Geschäftsleute, wir sind nicht das Sozialamt. Du bist nicht mehr in Deutschland.“ Er lächelte Maté an. Als würde er das je vergessen.
Manchmal nahmen sie ihn auch mit nach draußen. Dann fuhren sie in Joskas Fiat in den alten Teil der Stadt. Gingen in Gaststätten, trafen Freunde von Joska und Enver. Frauen waren auch dabei. Die meisten sprachen ein paar Worte Deutsch und gaben sich Mühe, Maté bei Laune zu halten. Bei diesen Gelegenheiten wurde gesungen und Wein getrunken. Es war wie ein Familienfest, und wenn Maté die Sprache verstanden hätte, in der sie sich untereinander unterhielten, hätte er sich vielleicht ein bisschen mehr zuhause gefühlt.
„Woher kannst du so gut Deutsch?“, fragte er Dana, die neben ihm saß und beim letzten Lied ihren Arm unter seinen gehakt hatte.
„Enver hat mir gelernt.“ Sie blickte hinüber zu Enver, der am anderen Ende des Holztischs saß und gestikulierend mit einer schönen Frau sprach, die Maté heute zum ersten Mal
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