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Sterbelaeuten

Sterbelaeuten

Titel: Sterbelaeuten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Endemann
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die Tür. Das Zimmer war leer, das Bett gemacht. Dann war Sibylle wohl schon zur Kirche gefahren. Stephanie erinnerte sich nicht, ob das Auto in der Straße gestanden hatte. Vielleicht hatte Sibylle wegen der Fortbildung keine Zeit gehabt, ihre Stücke für den heutigen Gottesdienst zu üben.
    Stephanie sah auf die Uhr. Es war halb neun. Heute sollte die Fürbitte für ihre Mutter verlesen werden. Natürlich würde sie zum Gottesdienst gehen, denn das wollte sie nicht verpassen. Na ja, wenigstens musste sie Johannes dort nicht begegnen, der war ja in Falkenstein. Stephanie ging ins Bad, zog sich aus und stieg unter die Dusche. Sie drehte das Wasser so heiß, dass es gerade noch auszuhalten war.
    –
    Torat war zwei Straßen weiter an den Rand gefahren und hatte das Handy hervorgeholt. Jakob ging nach dem dritten Klingeln dran.
    „Was?“, bellte es aus dem Hörer.
    „Hör zu, Jakob. Ich habe alles im Griff“, erklärte Torat. „Die Schwester hat nicht gemerkt, dass Sibylle nachts nicht zuhause war.“
    „Woher willst du das wissen?“
    „Ich habe sie gestern Nacht mit nach Hause genommen. Jetzt wird sie denken, dass Sibylle schon wieder aus dem Haus gegangen ist. Sie sind verkracht, Stephanie wird denken, Sibylle geht ihr aus dem Weg. Bis heute Nachmittag merkt niemand, dass Sibylle verschwunden ist. Und die Polizei wird nicht vor morgen anfangen, sie zu suchen.“
    „Okay, aber wir müssen uns treffen.“
    „Komm nach dem Gottesdienst in die Kirche. Ich bringe Sibylle was zu essen und zu trinken. So um halb zwölf. Dann können wir reden.“
    „Du Scheiß-Versager, wie stellst du dir vor ...“, wollte Jakob wieder anfangen, aber Torat sagte nur: „Ich muss Schluss machen“, legte auf und fuhr los.
    –
    Antoni lief durch die verschneiten Straßen. Er hatte eine Reisetasche in der Hand. Heute Mittag fuhr sein Bus nach Polen, wo er Weihnachten mit seinen Eltern und Alicjas Familie verbringen wollte. In der Tasche waren – neben ein paar wenigen Anziehsachen – Geschenke für alle Kinder der Familie. Für seine Nichten hatte er Barbies gekauft. Sein Neffe Adrian hatte sich eine Spielzeugpistole gewünscht. Die, die Antoni schließlich gekauft hatte, sah so echt aus, dass er Angst hatte, an der Grenze kontrolliert und im Besitz der Pistole angetroffen zu werden. Man konnte sie sogar entsichern. Dabei machte sie ein täuschend echtes Geräusch. Er hatte daher schon alle Geschenke sorgfältig in Geschenkpapier eingewickelt. Für Alicja hatte er auf dem Frankfurter Weihnachtsmarkt eine von diesen Mützen gekauft, die viel zu groß waren und am Hinterkopf herunterhingen. Die hatten ihr gefallen. Eine knallrote hatte er ausgesucht. Alles war bereit. Aber bevor er abfuhr, musste er noch etwas loswerden.
    Pfarrer Herrmann sah erstaunt auf, als die Kirchentür sich öffnete. Die Messe begann erst um halb zehn, es war noch eine Stunde Zeit. Der Mann, der jetzt mit einer Reisetasche in der Hand eintrat, war der Pole, der ihm letztens entwischt war. Seitdem hatte er ihn nicht mehr gesehen. Nun kam er also von sich aus. Schön.
    „Guten Morgen, mein Sohn.“
    „Ich möchte beichten.“
    „Ich weiß“, sagte Pfarrer Herrmann und wies mit der Hand zum Beichtstuhl.
    –
    Sibylle schreckte auf, als die Glocken zu läuten begannen. Sie fror entsetzlich. Ihre Finger ließen sich kaum mehr bewegen, sie waren steif vor Kälte. Ihr Po war eiskalt und schmerzte bis in den Rücken hinauf. Die Füße spürte sie gar nicht mehr. In den frühen Morgenstunden musste sie für einige Zeit eingeschlafen sein, aber davor hatte sie Stunde für Stunde im eiskalten Turm gesessen und abwechselnd geweint, gebetet und vergeblich versucht, ihre Fesseln aufzureiben. Jetzt läutete es neun Uhr. In einer Stunde würde der Gottesdienst beginnen. Wenn dann niemand die Orgel spielte, würde man nach ihr fragen. Spätestens dann mussten sie sie vermissen. Aber selbst wenn man sie suchte, wie sollten sie darauf kommen, wo sie war? Niemand kam je in diesen Turm, außer Thomas vielleicht ganz selten. Niemand hatte sie gestern in die Kirche gehen sehen. Ihre Lage war verzweifelt. Hauptsache, sie fingen an, nach ihr zu suchen. Ab zehn Uhr. Wenn der Gottesdienst anfing und sie nicht spielte. Oh, bitte lieber Gott, lass sie mich hier finden, lass es nicht mehr lange dauern, lass sie mich finden, lass mich nicht erfrieren.
    –
    Thomas trat aus dem Gemeindehaus. Er holte den Besen, um vor dem Gottesdienst die dünne Schneedecke, die seit dem Abend

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