Sterbelaeuten
von Torat im Oktober.
Wo bleiben die ‚Grand Jeux‘, dachte Elisabeth. Warum spielte Sibylle ein Stück nach, das Torat gerade auf einem Konzert gespielt hatte? Das war sehr merkwürdig. Als das Stück zu Ende ging, stand Elisabeth mit den anderen Gottesdienstteilnehmern auf und ging zum Ausgang. Sie versuchte, einen Blick auf Sibylle zu erhaschen, aber an der Orgel war niemand zu sehen. Frau Schimmer, die Vorsitzende des Kirchenvorstands, hielt ihr die Hand hin und Elisabeth begrüßte sie.
–
Neben Elisabeth stand Lukas auf. Markus, der neben ihm saß, zog ihn wieder auf die Bank und flüsterte ihm zu: „Ich muss noch mal in den Glockenturm.“
„Jetzt? Warum?“
„Ich hab meine Uhr mit dem Kompass und der Taschenlampe da verloren“, log Markus.
Das sah Lukas ein. „Ich komme mit.“
„Nee“, sagte Markus, „du und Samuel, ihr müsst Schmiere stehen. Einer am Haupteingang und einer an der Seitentür. Ich habe keine Lust, dass Torat wieder auftaucht oder so.“
„Okay“, sagte Lukas zögernd, „ich sag Samuel Bescheid.“
Markus bildete das Schlusslicht der langsam aus der Kirche strömenden Gottesdienstgemeinde. Statt aus dem Ausgang zu gehen, stahl er sich die Treppe zur Empore hinauf. Er versteckte sich hinter dem Balkon. Vom Organisten war keine Spur zu sehen. Markus kauerte sich hin und wartete.
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Sibylle hörte, wie sich die Tür zum Glockenturm öffnete. Sie hob den Kopf, um zu sehen, wer da kam. Es war Torat. Er hatte einen Korb bei sich. Seine Augen blickten unruhig in dem kleinen Turmzimmer umher, bevor er sich Sibylle näherte. Sibylle fing sofort an, verzweifelte Geräusche zu machen.
„Sibylle, du musst still sein, sonst gehe ich sofort wieder weg.“ Er sah zur Tür und Sibylle hatte den Eindruck, er würde am liebsten gleich weglaufen. „Ich mache jetzt den Klebestreifen ab. Aber wenn du schreist, klebe ich sofort einen neuen drauf.“ Zur Verdeutlichung der Drohung zückte er die Rolle mit dem Klebeband. Sibylle nickte. Torat zog den Klebestreifen ab.
„Ich habe heißen Tee mitgebracht“, sagte er.
„Ich muss pinkeln, du Arschloch!“, krächzte Sibylle.
„Auch daran habe ich gedacht.“ Er griff in den Korb und hielt eine Tupperdose hoch. Sibylle sah, dass seine Hand zitterte.
„Spinnst du? Was soll ich damit?“, zischte Sibylle.
„Na, pinkeln.“ Er schnitt das Klebeband um ihre Hände ab und hielt ihr die Dose hin.
„Willst du mir dabei zusehen? Bist du so ein Perverser, dem dabei einer abgeht?“
Torat überlegte kurz. „Ich gehe nach unten“, sagte er dann, „aber nur für eine Minute. Wenn du schreist, komme ich sofort hoch, und dann ist Schluss mit dem Zimmerservice.“
Sibylle starrte ihn bitter an. Es blieb ihr nichts anderes übrig. Ihre Blase platzte gleich. Bevor sie auch nur einen vernünftigen Gedanken fassen konnte, musste sie sich erst mal erleichtern. Mit eiskalten Händen und steifen Gliedern öffnete sie Knopf und Reißverschluss, streifte die Hose herunter und pinkelte in die Dose. Sie zog die Hose wieder hoch und setzte den Deckel auf die Dose. Torat stieg die Treppe hoch.
„Setz dich hin!“
Sibylle blieb stehen. Torat war allein und er sah ziemlich mitgenommen aus. Vielleicht hatte sie eine Chance, ihm zu entkommen oder ihn zum Einlenken zu bringen. „Was hast du mit mir vor? Ich setze mich nicht wieder. Ich will hier raus. Ich bin halb erfroren. Ich sterbe hier!“
Torat griff fest nach ihren Armen. Sie wehrte sich, versuchte um sich zu schlagen, aber er zwang sie zu Boden und drückte schließlich ihre Arme gegen das Geländer. Sie war so steif vor Kälte und wackelig auf den Beinen, dass sie sich noch weniger als gestern wehren konnte.
„Dir passiert nichts.“ Torat schlang Klebeband um ihre Arme und das Treppengeländer. Er riss ein Stück Klebestreifen von der Rolle und stach mit seinem Schlüssel ein Loch hinein. Er klebte das Band über ihren Mund. Dann griff er zum Korb, holte einen Strohhalm heraus und die Thermoskanne. Er goss den Deckel voll Tee. Dann steckte er den Strohhalm durch das Loch im Klebestreifen und hielt ihn in den Tee. Sibylle trank gierig. Der Tee war heiß und süß. Torat sah auf die Uhr. Er zog Sibylle den Strohhalm weg und fing an, alles wieder in den Korb zu packen. Er ging zur Treppe und sah noch mal zu Sibylle hin.
„Heute Abend wird ein anonymer Anruf bei Stephanie eingehen. Der Anrufer wird mitteilen, wo du bist.“ Dann stieg er hinab und Sibylle hörte die Tür
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