Sterbelaeuten
hinzugekommen war, zu beseitigen, damit niemand darauf ausrutschte. Als er zur Kirche kam, sah er eine Fußspur in die Kirche führen.
Wer mochte das sein?, überlegte er. Sibylle hatte Orgeldienst, aber die Fußabdrücke schienen etwas groß. Thomas sah in die Kirche hinein. Es war still. Er rief: „Sibylle?“, bekam aber keine Antwort. Er wartete einen Moment. Vielleicht war sie noch mal auf die Toilette gegangen?
Aber nicht durch den Haupteingang, dachte er. Es führte nur eine Spur hinein und keine hinaus. Vielleicht konzentrierte sie sich auf ihre Noten. Thomas ging wieder nach draußen und brachte den Besen zurück in den Geräteschuppen. Zum Seiteneingang gingen keine Fußspuren. Auf dem Weg zum Schuppen kam ihm Henry entgegen.
„Morgen, Thomas“, grüßte er. „Hast du noch mal gekehrt?“
„War nicht viel.“
–
Henry und Thomas standen einen Moment zusammen und berieten über das Wetter und darüber, wohin man am Nachmittag mit den Kindern zum Schlittenfahren gehen könnte. Dann fiel Henry auf, dass er den Zettel mit den Abkündigungen vergessen hatte, und er ging noch mal ins Haus zurück. Auf seinem Schreibtisch lagen verschiedene Stapel mit Taufanmeldungen, Notizen von Traugesprächen, Unterrichtsmaterialien und Weihnachtswunschzetteln. „Was Cooles“ (Lukas), „Was Krasses“ (Markus), „Hanni und Nanni-CDs“ (Marlene). Dazwischen stand ein Kran, den Lukas zum Reparieren dort abgestellt hatte und Marlenes Taschenlampe, deren Batterien er erneuern sollte. Nach einigem Suchen fand er den Abkündigungszettel zwischen den Wunschzetteln seiner Kinder. Es klebte ein Bonbon darauf, den Lukas ihm geschenkt hatte, dafür, dass er versprochen hatte, den Kran zu reparieren. Er würde noch mal klarmachen müssen, dass die Kinder an seinem Schreibtisch nichts verloren hatten.
Henry las den Zettel durch. Das Orgelnachspiel hatte einen französischen Namen.
Elisabeth streckte den Kopf durch die Tür seines Arbeitszimmers. „Du bist ja noch da?“
„Hab die Abkündigungen vergessen. Heute gibt es ‚Dialogue sur les Grands Jeux‘ zum Orgelnachspiel“, las er Elisabeth vor.
„Hm, lecker!“ Elisabeth sah sich den Zettel an. „Wer richtet die großen Spiele denn aus?“
„Sibylle“, sagte Henry. „Jetzt muss ich aber. Bis gleich!“
Als Henry schließlich um zwanzig vor zehn in die Kirche kam, spielte die Orgel. Anscheinend übte Sibylle noch oder spielte sich ein. Dabei wollte er nicht stören. Henry legte seine Sachen zurecht, prüfte das Mikrophon und begrüßte die Kirchenvorsteher vom Dienst, die jetzt kamen. Langsam trudelten auch die Gottesdienstbesucher ein. Die Glocken begannen zu läuten und die Orgel verstummte. Henry stellte sich an den Eingang, um die Leute zu begrüßen. Er spähte zur Orgelempore hinauf, um Sibylle zum Gruß zu winken, aber er konnte niemanden sehen. Da ist sie jedenfalls, er hatte sie ja schon gehört, dachte Henry und wandte sich den eintretenden Gottesdienstbesuchern zu.
Als die Glocken langsam ausklangen und das Orgelvorspiel einsetzte, kam Elisabeth mit Lukas und Markus angelaufen. Die Jungen waren schon wieder mitgekommen. Henry ließ den Blick über die Bänke schweifen. Heute war es nicht besonders voll. Elisabeth und die Jungen fanden mühelos in einer der vorderen Bänke Platz.
–
Als die Orgel einsetzte, liefen Sibylle Tränen der Verzweiflung die Wangen herunter. Torat spielte an ihrer statt. So musste es sein. Hatte er behauptet, sie sei krank geworden? Würde man das glauben? Was war mit Stephanie? Sie hatte ihr doch eine Nachricht hinterlassen. Würde sie sie nicht vermissen? Würde sie sich nicht wundern? Sibylle zerrte erneut an ihren Fesseln, aber die saßen fest und bewegten sich nicht unter ihrem Ziehen. Wie lange würde ihre Qual noch dauern? Wenn Torat nicht kam und sie befreite, würde sie hier sterben? Würde sie als Skelett zur Sulzbacher Touristenattraktion werden? Turmführung mit Gruselskelett, jeden Sonntag nach dem Gottesdienst. Ihr Schluchzen wurde zum Japsen und das Japsen zu einem unheimlichen Lachen. Ihr war schwindlig. Sie hatte seit zwanzig Stunden nichts gegessen, und als das irre Lachen sie schüttelte, spürte sie ihre Blase, die zum Platzen voll war.
–
Torat spielte mit zitternden Händen. Das hier war total verrückt. Wenn Stephanie ihn hier oben sah, war alles aus. Oder wenn irgendwer ihn sah und davon erzählte. Irgend so ein einzelner Blödmann musste sich natürlich auch heute in die Empore setzen, obwohl
Weitere Kostenlose Bücher