Sterbelaeuten
unten noch genügend Bänke frei waren. Torat betrachtete ihn durch den kleinen Rückspiegel an der Orgel. Er konnte ihn nicht besonders gut sehen, traute sich aber auch zwischen den Liedern nicht, sich umzudrehen und ihn direkt anzusehen. Er kam ihm wage bekannt vor. Während er spielte, überlegte Torat fieberhaft, wer dieser Mann sein konnte. Jedenfalls sah er nicht wie jemand aus, den Torat aus der Gemeinde kannte, also würde der sich bei seinem Anblick hoffentlich auch nicht wundern. Vielleicht so ein Geschichtsfreak, der sich die Sulzbacher Kirche ansehen wollte. Hoffentlich kein Orgelfan oder Kollege, der ihn nach dem Gottesdienst in ein Gespräch über die historische Orgel verwickeln wollte.
Gefährlich waren auch die Gottesdienstbesucher, die ihn kannten und die sich untereinander unterhielten. Von den hintersten Bänken unten im Gottesdienstraum war der Kopf des Organisten zu sehen, jedenfalls ein normal großer Erwachsener konnte ihn sehen. Sein Hinterkopf sah auch von den hinteren Bänken betrachtet nicht aus wie Sibylles, so viel war klar. Er spielte geduckt, mit eingezogenem Kopf. Es war ein Wunder, dass er überhaupt einen Ton traf. Sibylle war kleiner als er, vielleicht sah man sie normalerweise nicht beim Spielen. Er konnte nur hoffen, dass die Gottesdienstbesucher nicht wussten, wer wann Orgeldienst hatte. Selbst wenn sie ihn sahen, würden sie sich hoffentlich nicht wundern. Aber wenn Stephanie, Thomas oder dieser Christian ihn sahen oder auch Elisabeth, dann war er verloren. Und Thomas würde ihn ganz sicher sehen, wenn er die Vaterunser-Glocken läutete. Dann stand er hinter der hintersten Bank und würde nach vorne zum Altar gucken. Was dann? Wie hatte er nur glauben können, dass er mit diesem Trick durchkommen würde? Torat fühlte seinen Brustraum eng werden. Vielleicht würde er jetzt einen Herzinfarkt bekommen, dann wäre alles ganz schnell vorbei. Mit zitternden Händen beendete er das Lied. Etwas tropfte auf die Tasten und er brauchte einen Moment zu kapieren, das es sein Schweiß war, der ihm auf der Stirn ausgebrochen war. Er betete so innig wie nie zuvor, dass er diesen Gottesdienst überstehen und heil aus der Sache herauskommen würde.
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Henry predigte Besinnung. Er warnte seine Gemeinde davor, ihre Nerven an Dingen wie Hausputz, Weihnachtsgans und dem perfekten Weihnachtsbaum aufzureiben. Sie sollten stattdessen der Tatsache eingedenk sein, dass Gott an Weihnachten seine Liebe zu ihnen ganz ohne solche Voraussetzungen bezeugt habe. Auch heuer würde das Christkind fröhlich in die nicht so perfekt geputzte Stube einziehen, solange es dort mit offenem Herzen empfangen würde, und nicht mit der Aufforderung, sich die dreckigen Schuhe auszuziehen und die Finger vom Baumschmuck zu lassen. Oder so ähnlich. Elisabeth hatte sich prompt in gedankliche To-do-Listen verloren. Bei ihr war Henrys Ansatz voll in die Hose gegangen. Männer hatten eben leicht reden bei diesen Dingen, dachte sie.
Tatsächlich war der Heilige Abend im Sulzbacher Pfarrhaus nicht so stressig, wie man hätte meinen können. Die Kinder kannten es nicht anders, als dass sich das familiäre Programm um die Dienste ihres Vaters herum gestalten musste. Alle hatten sich schon – manchmal mehr und manchmal weniger zu Elisabeths Freude – an den Krippenspielaufführungen beteiligt, so dass beim Warten auf das Christkind keine Langeweile aufkam.
Keiner erwartete von Elisabeth Weihnachtsgänse oder sonstige aufwändige Festmenüs. Hierfür gab es Restaurants und für ein richtiges Weihnachtsessen war an den folgenden Feiertagen noch genug Zeit. Nach den Nachmittagsgottesdiensten aßen sie am Heiligen Abend ein paar leckere, fertig gekaufte kalte Sachen zum Abendessen. Dann folgte die von den Kindern sehnsüchtig erwartete und sowieso viel wichtigere Bescherung. Da jeder im Schnitt anderthalb Gottesdienste an diesem Tag erlebte, hielten sie sich auch nicht mit solchen ehrgeizigen Programmpunkten wie dem Verlesen der Weihnachtsgeschichte oder dem Singen von Liedern auf.
Elisabeth wurde aus ihren Gedanken gerissen, als die Gemeinde zu den Fürbitten aufstand. Die Gemeinde gedachte Frau Katharina Heinemann, geborene Reichenbach, verstorben mit 74 Jahren. Die Orgel stimmte „O komm, o komm, du Morgenstern“ an. Henry verlas die Abkündigungen. Die Gemeinde erhob sich zum Segen und setzte sich zum Orgelnachspiel. Es war eine Fuge. Elisabeth erkannte sie. Es war Buxtehude, sie kannte das Stück aus dem letzten Konzert
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